„Wir können uns nicht herausnehmen aus dem Weltgeschehen“

Foto: Alex Stahl

Cornelia Stahl nähert sich den VOLL50-Fragen unter einem literarischen Blickwinkel und plädiert für Genauigkeit in der Betrachtung, Sensibilität im Umgang mit Rück- und Vorsicht sowie für Humor.

VOLL50: Welche Vorteile hat es für eine Voll50-Frau, ein lebendiges, soziales Umfeld zu haben?
Cornelia Stahl: Bevor ich auf die Frage eingehe, muss ich berücksichtigen, in welcher Lebenssituation ich mich befinde und von welchem Standpunkt aus ich argumentiere.

Antworte ich als privilegierte, weiße, europäische Frau, die mit ausreichendem finanziellen Backround ausgestattet ist? Oder habe ich als europäische, weiße Frau soeben einen Schlaganfall erlitten, der mich aus der Arbeitswelt hinauskatapultiert hat? Freunde/Freundinnen suchen das Weite. Das soziale Umfeld ist auf die Größe einer vertrockneten Zitrone zusammengeschrumpft. Im Idealfall gibt es einen Sozialstaat, der es mir ermöglicht, halbwegs an der Oberfläche zu schwimmen. Die Miete wird gezahlt und die Mindestsicherung reicht aus, um „überleben“ zu können.

Eine Frau mit irgendwelchen Erkrankungen verschwindet im Resonanzraum des Begehrens, wird nirgendwohin eingeladen, weder zu Lesungen noch zu privaten (Geburtstags)feiern. Sie hat sich zurückgezogen. Zwischen Büchertürmen oder ähnlichem hat sie sich „eingerichtet“ und fristet ein Dasein, dass nicht planbar/kalkulierbar war, mit dem sie sich jedoch arrangiert hat.

Kein Geheimnis ist, dass nur wenige Schriftstellerinnen üppig leben, die meisten von ihnen in prekären Verhältnissen. Selten sind sie ausreichend abgesichert, wie die Autorin Petra Ganglbauer in einem Interview im März 2023 berichtete.

Szenenwechsel: Außerhalb Europas: 2012 hatte ich in der Mongolei eine Frau kennengelernt, ich schätzte sie auf sechzig (Sie war fünfzig Jahre alt). Ich erinnere mich an die überwältigende Gastfreundschaft in der Einraumwohnung, der Jurte, beim Fest Tsangaan-Sar (Weißer Mond, 21.Februar), zu dem ich privat eingeladen wurde. Die Töchter kamen ab und an zu Besuch und halfen der Mutter. Kein Auto, kein Geld für Ausflüge ins Innere des Landes, an Auslandsreisen war nicht zu denken. Am Rande der Stadt zu leben ist kein Privileg, ein „Überleben“ war dennoch (irgendwie) möglich.

VOLL50: Warum liegt hinter jedem Lebensereignis ein tieferer Sinn?
Cornelia Stahl: Der Sinn erschließt sich nicht im jeweiligen Moment, sondern meistens Jahre später.

VOLL50: Wie hängen mit voll50 Rücksicht und Vorsicht zusammen?
Cornelia Stahl: In einer kapitalistischen und digitalisierten Welt ist Rücksicht nicht vorgesehen, Konkurrenz an der Tagesordnung. Im Wort Rücksicht schwingt Altruismus. Formen von Solidarität wären notwendig. Als ich junge Menschen um die Dreißig in ein Gespräch über Solidarität verwickelte, wussten diese nichts mit dem Begriff anzufangen. Innerhalb der Generationen werden die Begriffe Rücksicht und Vorsicht unterschiedlich definiert und gedeutet. Die Autorin Ulrike Draesner beschrieb die Differenzen zwischen den Generationen (und den Geschlechtern) sehr präzise im Artikel „Wenn eine Frau älter wird . Von Scham, sprachlicher Hilflosigkeit und Einsamkeit war da die Rede.

VOLL50: Welchen Zeichen sollte frau folgen, um in die Balance zu kommen?
Cornelia Stahl: Balance ist eines der Modewörter, die im täglichen Sprachgebrauch zirkulieren. Freiheit ist ein weiteres, wie die Kabarettistin Lisa Eckert 2022 in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ betonte: „Geschlechter sind fluid, (…) wir sind zur Selbstbestimmung verdammt. Es gibt nur einen Imperativ: Wir sollen gefälligst herausfinden, wer wir sind und dem müssen wir dann treu bleiben.“ Um die Frage nach „Balance“ zu beantworten, kann man die Entwicklungen der letzten Jahre, die ins Private hineinspielen, nicht ausklammern. Ein Trugschluss, den Rückzug in die Privatheit als allumfassende Lösung zu betrachten. Wir können uns nicht herausnehmen aus dem Weltgeschehen.

In der Anthologie „Wechselhafte Jahre“ von Bettina Balàka (Leykam 2023) zeigen die verschiedenen Beiträge der Schriftstellerinnen, dass es keine Handlungsanleitung fürs Älterwerden gibt. Jede Form des Alterns ist individuell, jede Form, „in Balance zu kommen“ so vielfältig wie die Lebenswege der Frauen, die in diesem Buch vertreten sind.

Die Schauspielerin und Autorin Grischka Voss hat sich 2023 in ihrem Stück F*ting Hot mit den Wechseljahren und dem Älterwerden von Frauen auseinandergesetzt. Zu ihrer Performance ins Wiener Theater Drachengasse kamen insbesondere ältere Paare, was mich zunächst wunderte, später jedoch zum Schmunzeln brachte. Sich ernst nehmen und trotzdem über sich lachen können. Humor ist, spontan argumentiert, ein brauchbares Mittel, um in Balance zu bleiben oder zu kommen.

VOLL50: Warum ist es mit voll50 manchmal so schwer, abzuwarten, bis man um Hilfe gebeten wird?
Cornelia Stahl: Die Frage ist ein Spiegel zeitgenössischer Beziehungsmuster. Eine allgemeingültige Antwort wäre an dieser Stelle unangebracht, daher verzichte ich auf eine Argumentation, da mir die Details zur Entstehung der Frage unbekannt sind.

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Drei Wünsche an die Fee

Meine Sonntage – falls ich sie als Selfcaring-Tage einhalten kann – bestehen ja zu einem gewissen Teil aus dem Hören von Podcasts. Eine wunderbare Erfindung! Man lernt viel, wird aber auch mit Dingen konfrontiert, die einen früher beschäftigt haben und die eigentlich bereits für ‚erledigt‘ gelten.

Die schriftliche Version dieses Beitrags finden Sie ab Freitag Abend auf http://freie-journalistin.at/texten/blog

Liebe statt Prinzipien

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, bin ich ein ziemlich zuverlässiger Mensch. Und wenn die Zuverlässigkeit Pause macht, steckt meistens Meteoriteneinschlag oder Tod dahinter. In der vergangenen Woche leider letzteres.

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„Dem Leben entgegengehen ist eine hilfreiche Strategie“

Fotocredit: Minitta Kandlbauer

Aus verantwortungslosen verantwortungsbewusste Menschen machen zu können – diese Vorstellung hat Bettina Baláka losgelassen. Und sie empfiehlt ein gutes Buch, wenn die Realität langsamer als die eigene Geschwindigkeit ist.

VOLL50: Sind hohe Ideale und Toleranz ein Widerspruch?
Bettina Baláka: Hohe Ideale im Großen und Toleranz im Kleinen. Bei Menschenrechten werden keine Abstriche gemacht, aber eine Carbonara mit Sahne muss keinen Nervenzusammenbruch auslösen.

VOLL50: Welche Voraussetzungen sollten mit voll50 gegeben sein, damit frau die Kontrolle abgibt?
Bettina Baláka: Die Kontrolle wird sehr gerne abgegeben, idealerweise an bewährte Leute. Um sich bewähren zu können, braucht eine Person Vorschussvertrauen. Wird dieses wiederholt enttäuscht, ist es irgendwann verbraucht. Natürlich gibt es lässlichere und gravierendere Fehler, größere und geringere Verantwortung. Die Vorstellung, Menschen „ändern“ zu können, also verantwortungslose verantwortungsbewusst zu machen, habe ich nicht mehr. Dabei sagen die, die nicht mehr mit Aufgaben betraut werden, gerne selbst: „Nur einmal noch, ich kann mich ändern!“

VOLL50: Das Leben abwarten oder das Leben erwarten?
Bettina Baláka: Manche Dinge muss man aussitzen. Manche Erwartungen werden enttäuscht. Dem Leben entgegengehen kann bisweilen eine hilfreiche Strategie sein.

Voll50: Wann darf frau sich mit voll50 zurückziehen, ohne zur Eremitin zu werden?
Bettina Baláka: “The joy of missing out” ist eine von jüngeren Leuten gerne verwendete Phrase, mit der sie den freudvoll selbstbestimmten Zustand bezeichnen, der entsteht, wenn man gemütlich sein Ding macht und dabei ein soziales Ereignis verpasst. Die Existenz dieser Phrase kann dazu geeignet sein, etwaige Schuldgefühle bei denen, die ohne sie aufgewachsen sind, zu vertreiben.

VOLL50: Was passiert, wenn die Realität langsamer ist als die eigene Geschwindigkeit?
Bettina Baláka: Für solche Fälle empfiehlt es sich, immer ein gutes Buch dabei zu haben, um sich die Wartezeit angenehm zu vertreiben.

Am 27. Februar 2023 erscheint Bettina Balákas Buch „Wechselhafte Jahre. Schriftstellerinnen übers Älterwerden“ im Leykam Verlag.

https://bettinabalaka.wordpress.com

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