Vom Nimmerleinstag der Erwartungen

Realitätsfremd auf dem Boden der Tatsache stehen, dem Gesicht ein paar unverfälschte Lebenszüge geben, im Elfenbeinturm schaukeln – für Gerti Krawanja ist das die Kunst des Lebens.

VOLL50: Wie realitätsfremd dürfen wir mit voll50 sein?
GERTI KRAWANJA:
Im Grunde dürfen wir hierzulande ja alles sein – ob realitätsfremd, -verweigernd oder -verlustig. Ich muss zugeben, dass ich all dies verstärkt beobachte. Man könnte annehmen, dass ab einem gewissen Alter die Fähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Fiktion gegeben ist, was angesichts der Medienvielfalt aber immer schwieriger wird. Realitätsfremd im Sinne von „träumerisch“ und „visionär“ zu sein, ist gut und wichtig, fraglich finde ich hingegen, wenn voll50-frau auf eine weltfremde Schiene kommt, in der keine andere Sichtweise mehr Platz hat. Da fehlt mir ehrlich gesagt die nötige Toleranz. Also ja, gerne realitätsfremd, aber bitte auf dem Boden der Tatsachen.

VOLL50: Was kann man an einem Gesicht idealerweise ablesen?
GERTI KRAWANJA:
Bestenfalls noch ein paar unverfälschte Lebenszüge. Ich meine damit, dass in einer Welt voller Manipulation und chirurgischer Möglichkeiten das Maß an Regungen allmählich verloren geht. Ich hoffe nicht, dass sich diese Entwicklung so fortsetzt. Wenn ich mir die Gesichter zum Beispiel im TV heutzutage so anschaue, dann sehe ich größtenteils dieselben Ausdrucksweisen, vielleicht auch weil man es den Menschen so antrainiert. Idealerweise lese ich an einem Gesicht die volle Aufmerksamkeit und Authentizität beim Gespräch, einen offenen Blick und viele Lachfalten, in jedem Fall aber den Mut, jede einzelne Alterserscheinung mit Würde anzunehmen. Und ganz ehrlich: Ein Gesicht, das auf Weisheit beruht, wird man sich viel eher merken als tausend beliebige.

VOLL50: In welche Gewohnheit sollte frau mit voll50 auf jeden Fall frischen Wind bringen?
GERTI KRAWANJA: Gewohnheiten haben ja oft mit Bequemlichkeit zu tun: Der Mann, der sich abends auf die Couch setzt und auf das Essen wartet. Die Frau, die das Essen bringt und nach zig Ehejahren noch auf ein Lob wartet, das nie kommen wird. Warum nicht einmal den Spieß umdrehen und schauen, was passiert? Wer weiß, vielleicht wird im Ehemann der leidenschaftliche Koch geweckt. Schlimmstenfalls endet das Experiment mit Trennung, aber auch die Voll50-Frau darf noch die Bekanntschaft mit dem Alleinsein machen. Vielleicht ist es ein Segen für beide. Ich glaube, das Hausmütterchendasein hat ausgedient, allerdings soll sich keine Frau heute schämen müssen, gerne Hausmütterchen zu sein. Ich finde die Gewohnheit der Angepasstheit ohnehin das Übel der Menschheit, weil sich dann nichts oder alles in eine falsche Richtung bewegt. Auch die Gewohnheit, sich mit anderen zu vergleichen ist fatal. Wir sind alle einzigartig und dürfen das ruhig zeigen. Das bedeutet aber nicht, dass man vor lauter Individualismus vergisst, Rücksicht auf andere zu nehmen. Ein gesundes Mittelmaß in allem zu finden, ist wohl die Kunst des Lebens.


VOLL50: Welche Erwartungen (anderer) dürfen auf den Nimmerleinstag warten?
GERTI KRAWANJA:
Mit Erwartungen habe ich ohnehin so meine Probleme, weil sie die Tendenz haben, enttäuscht zu werden. Wenn sie übertroffen werden, dann ist es natürlich gut. Man kann es sich aber auch zur Gewohnheit machen (siehe obige Frage), wie ein Kind ohne Erwartung in den Tag zu gehen und staunend festzustellen, welche Geschenke er bereithält. Konkret gefragt, kann die Erwartung anderer, mich auf Meinungen, Klischees oder Lebensformen festnageln zu wollen, gerne auf den Nimmerleinstag warten. Andererseits habe ICH die Erwartung aufgegeben, dass der Mensch aus Fehlern lernen möge und Gerechtigkeit die Erde erfüllt.

VOLL50: Wie sieht Dein Zimmer im Voll50-Elfenbeinturm aus?
GERTI KRAWANJA: In meinem Voll50-Elfenbeinturm trifft sich jung mit alt, hell mit dunkel, bunt mit unifarben. Ich sitze auf einem weißen Schaukelstuhl und schaue aus großen Glasfenstern in eine weite hügelige Landschaft mit Wäldern und saftigen Wiesen. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Hügeln und lässt das Firmament rot leuchten. Irgendwo sehe ich noch Kühe auf der Weide, die friedlich grasen. Ein Sturm zieht auf und lässt die Bäume hin und her schwenken. Neben mir steht ein antikes Holztischchen mit heißem Tee oder Kaffee in Griffweite. Meine Gedanken sind weit und inspirativ – unvermittelt nehme ich mein Notizbuch und schreibe glückselig auf Seite 345 die letzte Seite meines Romans fertig. Uups, jetzt bin ich aufgewacht.

Die Welt als Inspiration

Ich gebe es zu: Meine Pippi Langstrumpf-Welt ist mir heilig. Doch wenn ich Kontakt zur Außenwelt bekomme, macht mich meine Einstellung nachdenklich.

Die schriftliche Version dieses Beitrags finden Sie ab Freitag Abend auf http://freie-journalistin.at/texten/blog

Noch bis 1. August 2022: https://tvthek.orf.at/profile/Festakt-zur-Eroeffnung-der-Salzburger-Festspiele/13887564/Festakt-zur-Eroeffnung-der-Salzburger-Festspiele-2022/14143867

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