Lebensprüfungen sind für Claudia Kanz ein Auftrag zur eigenen Weiterentwicklung. Und sie tragen dazu bei, neue Wege zu finden und sich selbst zu lieben.
VOLL50: Welchen Stellenwert haben Prüfungen mit voll50?
Claudia Kanz: Prüfungen gibt es ein ganzes Leben lang. Du lernst ja auch ein Leben lang. Das macht es für mich aber auch interessant. Manche Prüfungen suchst du dir aktiv aus, weil du etwas Neues lernen und beweisen willst, dass du es kannst. Und andere Prüfungen stellen sich dir direkt im Leben breitbeinig in den Weg. High noon!
Wir alle sind Beziehungsmenschen, und wenn es gerade auf dieser Ebene knatscht, ist es immer auch eine Prüfung, finde ich. Man lernt viel über sich selbst in der Krise und genauso im Konflikt, und ich sehe Schwierigkeiten, oder das Erlernen neuer Inhalte, Fähigkeiten, Verhaltensweisen immer auch als Lernprozess für mich selbst. Ich schaue mir selbst zu und bewerte und passe meine Strategie an. Manche nennen das reflektiert sein. Aber es ist mehr als das. Für mich bedeutet es, sich selbst auch immer wieder ein anderes Verhalten zu erlauben. Denn das alte Verhalten in die Zukunft zu kopieren, funktioniert nicht wirklich. Wir bleiben ja auch nicht ganz dieselben, wenn wir uns mit den Jahren weiterentwickeln.
Ich mag keinen Stillstand und glaube daran, dass wir uns bis zum Ende – sprich Tod – entfalten dürfen. Müssen wir ja auch, weil sich unser Lebensumfeld auch ständig verändert. Wir sind, nur weil wir 50+ sind, nicht mit allem fertig und können uns zurücklehnen. Da passiert noch viel. Hoffe ich. Anders, aber trotzdem gut. Vielleicht sind manche von uns nicht mehr so schnell bereit, etwas Neues zu lernen, aber für mich sind solche Lebensprüfungen – wie Beziehungen, Trennungen, berufliche Herausforderungen, Umzüge oder die Erderwärmung, der Rechtsruck oder einfach das Loslassen von alten persönlichen Glaubenssätzen – ein guter Spiegel und auch immer Auftrag für meine eigene Weiterentwicklung.
VOLL50: Worauf bist du nicht mehr neugierig?
Claudia Kanz: Ich bin von Natur aus sehr neugierig und spontan. Wenn etwas Neues meinen Weg kreuzt, will ich es auch ausprobieren und so verstehen lernen. Aber es gibt schon ein paar Situationen, die aufgrund meines feministischen Mindsets für mich absolut keinerlei Charme haben. Ich bin echt nicht neugierig auf aggressive Machtkämpfer ohne echtes Standing – das Maskulinum ist hier ganz bewusst gewählt. Meine Geduld mit Mansplainern (*) und den in den sprichwörtlichen 60er Jahren feststeckenden Chauvis ist nicht vorhanden. Ich werde nie den Moment vergessen, als ein Mann mich vor versammelter Mannschaft bedroht und angeschrien hat, jetzt sofort den Mund zu halten und mir zu überlegen, was ich jetzt sage, sonst… Und ich habe ihm lächelnd geantwortet, ich sei bereits zu alt und abgebrüht, dass mir schreiende Männer imponieren würden. Im Gegenteil, denn das sei viel zu flach und er solle die Tür ganz leise hinter sich schließen, wenn er jetzt geht. Und er ging. Ich finde so ein sexistisches Verhalten macht Männer nicht gerade attraktiver, oder was sagt ihr? Sagt denen das keiner?
Es gibt eine ganze Liste an kleineren Dingen/Tätigkeiten, die ich heute nicht mehr brauche. Ich bin nicht mehr neugierig darauf, mich so zu verhalten, wie es Andere von mir erwarten. Mir reichen meine eigenen Erwartungen an mich selbst, die ich auch nicht immer erfülle, und ich bin mir sehr oft eine härtere Gegnerin als jeder andere Mensch. Ich bin nicht mehr neugierig auf lange Nächte in Bars. Ich gehe einfach unterm Radar vor Mitternacht nachhause, weil ich einfach weiß, dass nichts Außergewöhnliches mehr passieren wird. Ich bin nicht neugierig auf veraltete Moralvorstellungen oder Tabus, die schon lange keine mehr sind oder sein sollten. Ich bin nicht mehr neugierig darauf, jede Mode mitzumachen. Ich weiß heute ganz genau, was mir steht. Ich habe bewusst keinen Fernseher und kein Auto mehr und beides geht mir nicht ab. Ich gebe FreundInnen kein Lipservice mehr (=genau das sagen, was der andere gerne hören will). Wenn ich um eine Meinung geben werde, sage ich, was ich mir dazu denke, auch wenn es weh tun kann. Ich erwarte mir von meinen Menschen das Gleiche, weil es mich weiterbringt als nette Worte.
Aber ich bin neugierig, ob diese zugegeben sehr rudimentäre Liste in den nächsten Jahren noch viel länger wird, oder ob ich etwas davon – aus mir heute noch undenkbaren Gründen – wieder ganz anders sehe. Nichts bleibt ewig gleich, das ist die einzige Konstante. 😉
VOLL50: Welche Entscheidung sollte man mit voll50 immer wieder treffen?
Claudia Kanz: Da schreit mein Herz sofort: Für die Liebe! Aber mit meinen 51 Jahren geht es nicht mehr nur um die körperliche oder romantische Liebe. Es geht um jede Art von Liebe. Um Freundschaft, Familie, Liebschaften, Leidenschaft, aber besonders um die Liebe zu sich selbst.
Die Selbstliebe, warum ist sie mir so wichtig? Ich denke, das hat viel damit zu tun, dass dieses Jahrzehnt zwischen 50 und 60 das freieste im Leben einer Frau ist. Ich empfinde mich immer noch als schön und begehrenswert, auch wenn ich keine fruchtbare Frau mehr bin. Jetzt ist die Zeit, in der ich alles sein kann, alles ausprobieren kann, denn nichts und niemand hält mich davon ab, ganz ich selbst zu sein. So empfinde ich das gerade. Die Kinder sind erwachsen und in meinem Fall ist der Ehemann bereits Geschichte. Ich bin nach über 20 Jahren wieder Single. Ja, so ein kompletter Neuanfang ist kein Zuckerschlecken. Weder emotional noch wirtschaftlich, aber ich würde die Entscheidung immer wieder treffen. Weil es eine Entscheidung für mich war. Alle Beziehungen haben ihre Zeit und ihren Sinn, aber man sollte sich nicht scheuen, sie zu beenden, wenn sie einen nicht mehr glücklich machen.
Ich gestalte mein Leben als Singlefrau jetzt gerade wieder ganz neu und dieses Mal wirklich ganz alleine. Ich lebte das letzte Jahr in einer 2 Frauen, 3 Kinder WG nach der Trennung vom Mann. Ich konnte mir aus meiner Persönlichkeitsstruktur heraus gar nicht vorstellen, alleine zu leben. Jetzt ist es anders. Ich bin bereit, wieder einen nächsten Schritt zu tun und suche gerade eine 3-Zimmer-Wohnung für meine Tochter (lebt an ungeraden Monaten bei mir) und mich. Diese Freiheit und Unabhängigkeit sehne ich schon sehr herbei und nenne das jetzt schon meine kompromissfreie Zone. Ich allein bin die Macherin meiner Zukunft. Endlich fokussierst du dich wieder viel mehr auf dich selbst. Du machst nicht mehr alles aus falsch verstandener Zuwendung mit und du hast gelernt „Nein!“ zu sagen, ohne die Angst, dann nicht mehr geliebt zu werden. Ich kann mit Fug und Recht behaupten ich liebe mich, wie ich bin. Mit allen Ecken und Kanten, Falten und Hügeln, Spinnereien und Spleens, Stärken und Schwächen. Selbstliebe heißt für mich, nicht mehr in ein Schema reinpassen zu müssen/wollen. Das ist für mich gel(i)ebte Freiheit.
VOLL50: Wo hört sich Zweisamkeit um jeden Preis auf?
Claudia Kanz: An der Toilettentür! :))) Um die seriösere Kurve zu kriegen, schließe ich hier aber lieber gleich direkt an mein Plädoyer für die Selbstliebe an. Ich würde es heute nicht mehr aushalten, wenn ein Partner mir seine ungelösten persönlichen Kamellen umhängt oder sogar von mir fordert, mich so zu verhalten, dass er, ohne sie zu bearbeiten, fein mit ihnen leben oder sie ignorieren kann. Ich muss mich um meine Interieurs ja auch selbst kümmern. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie belastend so ein bedürftiges Verhalten in Beziehungen ist. Ich bin bezüglich Übergriffe heute viel sensibler. Das heißt nicht, dass ich meinen Partner nicht unterstütze. Im Gegenteil. Das tue ich gern, solange er dabei Verantwortung für sich selbst übernimmt. Ja, und das gibt auch Diskussionen.
Ich möchte euch aber nicht nur erzählen, wo es für mich aufhört, sondern auch ein konkretes Bild malen, wo es für mich anfängt. Träumen kann man ja, oder? Und ich träume immer lieber vom Anfang als vom Ende. Ich habe im Netz eine kleine Allegorie zur reifen Liebe gefunden und sie für mich in meiner Tonart erweitert und transponiert:
Es ist ein schöner, warmer Sommertag. Auf einer grünen, saftigen Wiese steht auf einer sanften Anhöhe ein dichter Lindenbaum. Es summt, Grillen zirpen und Vögel zwitschern. Der Duft von Heu und Sommer durchdringt die Luft. Sie ist warm und nur eine leichte Brise ist zu spüren. (Fühlt ihr es?) Oben in der Baumkrone sitzen zwei Vögelchen und zwitschern und schnäbeln aufgeregt und liebevoll miteinander. Über ihnen ist der blaue weite Sommerhimmel. Beide wissen, sie könnten jederzeit wegfliegen, aber sie tun es nicht, weil es genau hier, genau jetzt miteinander so wunderbar ist!
OMG! Vielleicht bin ich doch romantischer veranlagt als ich dachte. Muss wohl wieder einen meiner Glaubenssätze abändern. 😉
VOLL50: Wofür sollte man sich mit voll50 unbedingt und häufig loben?
Claudia Kanz: Für die tausend Sachen, die man kann, macht, erlernt, verstanden und bewältigt hat. Man sollte sich für die eigenen Fähigkeiten unbedingt loben, denn wir Frauen sind schon immer gerne unsere größten Kritikerinnen gewesen. Dass wir uns oft nicht trauen, uns selbst großartig zu finden, schwächt uns in dieser von Männern dominierten Welt enorm. Und da tut es gut, sich morgens schon mal zu sagen, dass man als liebender und reflektierter Mensch wirklich sehr gut gelungen ist.
Ich habe aber auch eine sehr persönliche Zäsur erlebt, für deren gute Verarbeitung ich mich viel mehr loben sollte. Mir war nicht von Anfang an klar, dass meine Gehirnblutung 2016 das einschneidendste Erlebnis meines bisherigen Lebens sein würde und gleichzeitig das bisher am besten verarbeitete. Manchmal muss ich mich daran erinnern, wie ich mich von fünf Tagen im Koma und rechtsseitiger Lähmung binnen weniger Wochen wieder erholte. Meine Gehirnleistung war dank meinem Ehrgeiz beim Training nach kurzer Zeit in der Reha schon wieder fast normal. Ich verstand aber zu dem Zeitpunkt noch gar nicht, wie außergewöhnlich das war. Ich hatte damit zu kämpfen, dass ich zwar sehr schnell wieder zu 95 Prozent hergestellt war, aber extrem darunter litt, dass danach nicht mehr viel weiterging und mir die fehlenden 5 Prozent an Spritzigkeit sehr abgingen. Für mich war es wie ein Identitätsverlust. Ich war immer schnell beim Denken gewesen, und jetzt war es an manchen Tagen gefühlt nur Schneckentempo. Ich erinnere mich noch genau an den Moment vorm Spiegel im Bad, der mit einer Blitz-Erkenntnis meine Identitätskrise beendete. Ich verstand plötzlich, dass mein Gehirn wirklich ein Wunderding ist und ich die beschädigten Bereiche ganz schnell mittels akribischen Trainings durch neue Synapsen ersetzt hatte. Und da sagte ich ganz laut zu mir: Claudia, denk es einfach neu! Ein Satz kam in meine Gedanken: Deine 95 Prozent sind ab heute einfach deine neuen 100 Prozent. Realistischer Nachsatz: Die paar Prozent hätte ich vermutlich aufgrund meines Alters sowieso bald eingebüßt.
Danach war alles anders. Keine Nabelschau mehr. Nur mehr die 100 Prozent im Kopf und die 5 Prozent waren für mich nie mehr wichtig.
Wann immer ich einen Moment brauche, um mir klar zu machen, dass man alles schaffen kann und sogar einfach dadurch verändern kann, indem man seine eingeübte Denkrichtung einfach ändert, lobe ich mich für diese Eingebung an diesem Junitag vor dem Spiegel. Dass ich mich aktiv aus einer eingefahrenen Denke holen kann, macht mich sehr stolz.
www.cleoco.at
(*) mansplaining, erklärt von Claudia Kanz
„Kommt von man + explains = mansplaining
Ein sehr gängiger Begriff in meiner sehr emanzipierten Frauenblase 🙂 Ich krieg so einen Hals )(, wenn einer mir unbedingt in seinen Worten auch noch erklären muss, was ich eh gerade gesagt habe. Oder wenn mir ein Mann erklärt, wie man am besten menstruiert. :/ Mansplainer lassen echt nix aus. Und wenn sie das nicht tun können, dann fallen sie dir ins Wort. Das heißt dann manterrupting. Es ist schwer dafür deutsche Worte zu finden. Erklärknabe? UnterbrechEr?“