Keine Abstriche bei der Dummheit

Claudia Braunstein durfte die Erfahrung machen, dass Scheitern gut für sie ausgehen kann und dass die Gedanken anderer nichts mit ihr selbst zu tun haben.

VOLL50: Wann ist Sprunghaftigkeit etwas Positives?

Claudia Braunstein: Sprunghaftigkeit kommt in meinem Wortschatz nicht vor. Ich empfinde das als total negativ.Es bedeutet für mich Inkonsequenz, dass sich jemand nicht entscheiden kann oder dass er/sie zehn Ziele gleichzeitig hat. Sprunghaftigkeit ist ein Attribut, das einfach nicht zu mir passt. Ich bin ein sehr bewegter Mensch, aber immer mit klaren Zielen vor Augen.

VOLL50: Wann kann der frische Wind mit voll50 etwas rauh werden?

Claudia Braunstein: Mein Bewegungsdrang hat sich seit meiner Krebserkrankung noch viel mehr intensiviert, weil man einfach das Bewusstsein bekommt, wie schnell die Zeit vorbei sein könnte. Und ich habe das Gefühl viel mehr, nichts versäumen zu wollen. Leider muss ich jetzt die Grenzen meines Körpers achten. Ich bin mehrfach behindert, was bedeutet, dass ich einfach nicht mehr so fit bin wie früher und schneller in eine körperliche Erschöpfung komme. Mein Körper zeigt mir das sehr deutlich, und ich bin auch sehr feinfühlig, was das angeht. Trotzdem gehe ich immer noch an Grenzen, aber ich weiß auch, wo die Grenzen sind. Natürlich hat das jetzt nicht nur mit meiner Krankheit zu tun. Ich werde im Herbst 60, und da muss man – auch wenn es schwerfällt – dass man sich in der Früh länger strecken muss, dass man nicht mehr so leicht aus dem Bett hüpft. Die Tatsachen, denen man so ungern in die Augen schaut, ist für mich der rauhe Wind.

VOLL50: Welchen Vorteil hat es, Ziele nicht zu erreichen?

Claudia Braunstein:Ich tue mir wahnsinnig schwer, mir ein Scheitern einzugestehen. Ich habe vor anderthalb Jahren einen Buchauftrag bekommen, einen Stadtführer für Salzburg zu schreiben. Ein absolutes Traumprojekt, auch in Corona-Zeiten. Und dann hat es angefangen, sich im Hintergrund derart zu spießen, auch finanziell. Und an Weihnachten habe ich plötzlich wirkliche Bauchschmerzen bekommen. Das Buch war zur Hälfte fertig, und trotzdem habe ich schweren Herzens beschlossen, es zu lassen. Ich hatte schlaflose Nächte wegen dieses Projekte und irgendwann beschlossen: ‚Ich will das nicht mehr.‘ Diese Entscheidung habe ich persönlich als ganz großes Scheitern empfunden. Letztendlich habe ich aber festgestellt, dass ich positiv aus dieser Geschichte heraus gekommen bin, indem ich die Reißleine gezogen habe.

VOLL50: Werden die Vorschriften mit voll 50 weniger?

Claudia Braunstein: Sowohl als auch. Ich merke für mich, dass ich für mich selbst entscheide, dass manches nicht mehr wichtig für mich ist, auch wegen meines Alters. Dass ich nicht mehr faltenfrei, dass der Po nicht mehr knackig ist, obwohl es mich stört. Doch dann merke ich, dass nicht ich das Problem bin, sondern die gesellschaftlichen Anforderungen. Gerade in der Social Media-Welt begegnen einem tagtäglich Frauen zwischen 50 und 60, die aussehen wie ihre eigenen Töchter. Ich kenne die Hintergründe. Diese Frauen tun oft den ganzen Tag nichts anderes, als gut auszuschauen. Die haben oft keinen 40-Stunden-Job, keine Kinder, Enkelkinder oder Eltern haben, die sie versorgen müssen. Und viele haben noch nicht einmal einen Mann, der ihre Fürsorge braucht. Dieses Bild beeindruckt unsere Denkweise, auch wenn wir wissen, dass es nicht stimmt. Letztendlich sollte einem diese scheinbare Anforderung egal sein. Wo ich allerdings keine Abstriche mache: wenn jemand dumm ist. Mit diesem Thema bin ich tagtäglich konfrontiert, weil ich Menschen begegne, die aufgrund meiner Sprachbehinderung glauben, dass ich dumm bin. Viele glauben nämlich, dass Menschen mit sprachlichen Einschränkungen generell einen niedrige IQ haben. Deshalb reden vielen in einfachen, lauten, hochdeutschen Sätzen mit mir, und das empfinde ich als sehr bitter. Ich denke mir dann immer, dass ich nicht angeschrien werden möchte, nur weil mich mein Gegenüber nicht versteht. Ich bin ja kein Volltrottel. Deshalb sage ich meistens: ‚Ich hatte Zungenkrebs, bin aber sonst ganz normal.‘ Damit gebe ich dem anderen die Information, die er oder sie sich nicht zu erfragen getraut hat. In elf Jahren hat mich nur eine einzige Person von sich aus gefragt, warum ich spreche, wie ich spreche. Wegen der Ehrlichkeit dieser Taxifahrerin bin ich damals fast in Tränen ausgebrochen vor Freude.

Damit hängt natürlich zusammen, dass ich beschlossen habe: Das ist alles nicht mein Problem. Wir machen uns viel zu oft Gedanken darüber, was andere von uns denken. Das sind deren Gedanken. Und entweder sie sprechen sie aus oder sie müssen damit weiterleben. Für mich ist das Selbstschutz, auch vor dem Hintergrund meiner Krankheit, die ein traumatischer Einschnitt in meinem Leben war.

VOLL50: Was trägt dich?

Claudia Braunstein:Mich trägt sicher die Tatsache, dass ich eine große, liebevolle Familie habe, zu der ich vier Kinder beigetragen habe. Sie ist mein Background. Aber auch die Erfahrung durch meine Erkrankung, die ich mit vielen Menschen teile. Ich habe eine Ausbildung zur Psycho-Onkologin gemacht und begleite Menschen mit Mundhöhlen-Krebs ehrenamtlich in einem Selbsthilfegruppen-Setting. Ich habe auch ein großes Netzwerk, in dem ich mich gut aufgehoben fühle. Man muss nicht mit allen befreundet sein, aber wenn man versucht, empathisch zu sein, hat man große Chancen, dass einem geholfen wird. Je positiver man sein möchte, umso leichter kommt man durchs Leben.

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Die Seele wächst an gegenseitiger Wertschätzung

Daniela Rohde bezweifelt, dass es Altruismus gibt und schwört auf Verbundenheit. Dabei kann sie durchaus Konflikte durchstehen und anderen ihre Lösungskompetenz lassen.

VOLL50: Wo und wann hört der Wunsch nach Harmonie um jeden Preis auf?
Daniela Rohde: Zugegeben bin ich ein harmoniebedürftiger Mensch. Früher haben mir Streitigkeiten Angst gemacht. Zu Hause wurde nicht gestritten, sondern die Dinge wurden „totgeschwiegen“, als wären die Konflikte dadurch verschwunden. Je älter ich werde, desto mehr stehe ich Auseinandersetzungen gerne durch, weil ich erkannt habe, dass gerade durch diese mein seelisches Wachstum gefördert wird. Die eigene Entwicklung wird gehemmt durch ein Zuviel an unechter Harmonie. Wenn aber alles ok ist, breche ich sicher keinen Streit vom Zaun.


VOLL50: Wie gestaltet Frau Verbundenheit mit voll50?
Daniela Rohde: Am meisten fühle ich mich mit meiner Familie verbunden. Mein Mann ist mein bester Freund! Die Kinder sind untereinander sehr verbunden. Die Geschwister mit ihren Familien kannst du dir nicht aussuchen. Dennoch bleiben wir für immer verbunden. Freunde kann ich mir aussuchen! Darunter gibt es Menschen, mit denen muss ich nicht jeden Tag telefonieren oder mich ständig treffen. Da telefoniere ich oder treffe sie zweimal im Jahr, und es ist, als hätten wir uns gestern gesehen: So vertraut, so easy … Das ist für mich echte Verbundenheit. In meinem Leben gibt es auch eine Freundin, mit der ich relativ viel Kontakt habe. Ich liebe sie auf eine Art, aber so richtig fließend oder leicht ist die Verbindung nicht. Sie bedarf gewisser Anstrengung! Darum denke ich, diese Freundschaft besteht aus einer Verbundenheit eines langjährigen gemeinsamen Weges, ist aber keine Seelenverwandtschaft. Dennoch ist auch diese Verbundenheit es wert, gelebt zu werden.


VOLL50: Wann platzt dem Altruismus die Hutschnur?
Daniela Rohde: Eine selbstlose Denk- und Handlungsweise – gibt es so etwas noch? Ist nicht in allem, was ich tue, ein klein wenig Egoismus? Warum bekomme ich Kinder? Für mich! Wofür will ich den Patienten die Schmerzen nehmen oder zumindest lindern? Nur für deren Wohl oder
auch ein kleines bisschen, um mein Helfersyndrom zu besänftigen? Warum engagiere ich mich in Vereinen? Weil ich möchte, dass sie fortbestehen und um ein kleines bisschen meinen Ruhm zu mehren?! In allem, was ich tue, scheine ich auch ein wenig meinen eigenen Vorteil zu suchen. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Heuchler. Dennoch bin ich kein purer Egoist! Denke ich… Und wenn ich alles auch ein wenig für mich tue, reißt auch keine Hutschnur.


VOLL50: Warum sollte Frau Voll50 den anderen auch mal Lösungskompetenz zugestehen?
Daniela Rohde: Ganz ehrlich? Damit habe ich gar kein Problem! Ich denke, dass jeder eine hohe Lösungskompetenz in sich trägt.


VOLL50: Was ist befriedigender als Respekt?
Daniela Rohde: Der Begriff Respekt kam häufig von den Eltern oder Lehrern, er hat etwas Eingestaubtes aber auch Einseitiges. Respekt will verdient werden. Anstrengend! Respektable Verhaltensweisen hingegen sind für mich ein Grundstein friedlichen Zusammenlebens. Ein schöneres Gefühl ist die gegenseitige Wertschätzung. Frau weiß, was sie an anderen hat. Und umgekehrt.

Flucht in den Frieden

Jetzt ist er schon wieder weg, der Schnee, der das Weihnachtsfest doch immer wieder mit Sanftheit versehen hat. Zurück bleibt vorerst eine kalte Nässe, die unter die Pullis kriecht und die Sehnsucht nach einem Lagerfeuer ins Kraut schießen lässt. Doch wen wollen wir dort versammeln?

Die schriftliche Version dieses Beitrags finden Sie ab Freitag Abend auf http://freie-journalistin.at/texten/blog.

Von der Stärke, die eigene Meinung zu ändern

Andrea Kirchtag will aus dem Vollen schöpfen, jetzt mit voll50 mehr denn je. Und sie ist nicht auf der Welt, um so zu werden, wie andere sie wollen. Vor allem nicht ruhig.

VOLL50: Was versäumt frau mit voll50 gerne?

Andrea Kirchtag: Ich versäume gerne Zusammenkünfte, bei denen es nur und ausschließlich um Meinungsdiskussionen geht – ums Recht behalten, ums Durchsetzen und ums Besserwissen. Ich liebe es hingegen, mich mit Menschen auszutauschen, die wirklich etwas zu sagen haben und von denen man lernen kann. Ich schätze die Fähigkeit, unterschiedliche Ansichten auch einfach stehen lassen zu können – frei nach dem Motto „Let’s agree to disagree“

VOLL50: Ist es ein Widerspruch, zur Ruhe zu kommen und Veränderungen zu suchen?

Andrea Kirchtag: Für mich ist das gar kein Widerspruch. Ich bin ein Mensch, der Veränderungen braucht. Dann fühle ich mich lebendig und kann meine Ziele verfolgen und Neues erleben. Und als gelernte Psychologin weiß ich, dass jede Lebensphase auch immer wieder Veränderungen mit sich bringt. Als 30-Jährige haben mich natürlich andere Dinge beschäftigt als jetzt. Und das ist gut so. Während ich mich in jungen Jahren noch über so Vieles aufgeregt habe und „überall meinen Senf dazugeben musste“, erlaube ich mir seit mehreren Jahren, meine Meinung einfach auch einmal nicht kundzutun. Das finde ich sehr befreiend. Und die Ruhe? Die habe ich mein ganzes Leben gebraucht – schon als kleines Kind war mein Ruhepol das All-Eins-Sein in der Natur – das ist bis heute so geblieben. Bewegung in der Natur ist für mich die beste Kraft- und Ruhequelle.

Allerdings kann ich mit der Empfehlung von so manchen Menschen in meiner Umgebung, dass es auch für mich langsam Zeit wäre, etwas leiser zu treten, wenig anfangen. Das trifft für jene zu, die sich schon auf die Pension freuen und darauf hinarbeiten. Und manche sind dann ganz verblüfft, wenn ich sage, dass ich so voller Ideen bin und das Gefühl habe, aufgrund von über 30 Jahren Berufserfahrung kombiniert mit meinen vielen Ausbildungen, jetzt so richtig „aus dem Vollen zu schöpfen“. Die Vorstellung, dass ich „zur Ruhe kommen soll“ und mein Leben irgendwann ausschließlich darin bestehen soll, täglich irgendeinen Berg rauf und runter zu rennen oder mit den Walking-Stecken unterwegs zu sein oder tagaus tagein eine Radltour zu mache, ist mir unerträglich. Ich brauche immer was zum Denken, zum Entwickeln, zum Umsetzen, zum in die Welt bringen – und das werde ich auch tun, solange ich kann. Und irgendwann darf dann schon die „ewige Ruhe“ kommen – aber bitte jetzt noch nicht.

VOLL50: Legt man mit voll50 leichter alle Facetten der eigenen Persönlichkeit auf den Tisch oder schwerer?

Andrea Kirchtag: Es ist mir mit voll 50 nicht mehr so wichtig, mich unbedingt in allen Facetten zu zeigen. Ich wähle sehr genau aus, in welchen Kontexten ich mich wie zeigen will. Ich war immer schon ein Mensch, der sich selbst treu bleiben wollte. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich als junge Frau viel eher bereit war, Kompromisse einzugehen und mich auch anzupassen. Das interessiert mich jetzt gar nicht mehr. Ich weiß, dass ich meinen Weg gehe, meine Ziele verfolge, meine Standpunkte vertrete und gleichzeitig über ein gutes Maß an Selbstreflexion verfüge. Ich sehe es als Stärke an, auch die eigene Meinung zu ändern. Das gibt mir ein Gefühl von Verantwortungsbewusstsein und gleichzeitig von Sicherheit und Freiheit. Und wer mit mir nicht kann, muss ja nicht. Ich bin nicht auf dieser Welt, um so zu werden, wie andere mich haben wollen. Und siehe da: es gibt genug Menschen, die gerne mit mir in Verbindung stehen und genau dieses Mein-So-Sein sehr schätzen.

VOLL50: Wann fallen Arbeit und gesundes Nichtstun zusammen?

Andrea Kirchtag: Arbeit ist für mich ein Lebenselixier. Ich bin tatsächlich ein Mensch, der sehr, sehr gerne arbeitet. Mein berufliches Leben habe ich überwiegend der Unterstützung von Frauen in Richtung selbstbestimmtes Leben gewidmet – und das nach so vielen Jahren – jetzt sind es tatsächlich schon Jahrzehnte – mit der gleichen Freude wie eh und je. Und ich werde das weiterhin tun. Und es gibt viel zu tun, denn wir sind leider weit weg von der Gleichberechtigung der Frauen – in Österreich – in Europa – weltweit – LEIDER.

Und das gesunde Nichtstun? Das konnte ich früher besser. Ich bin vor allem seit Corona so extrem beruflich gefordert, dass ich aus dem Arbeiten nicht mehr rauskomme. Danke für diese Frage, denn es wird Zeit für mich, das gesunde Nichtstun wieder mehr in mein Leben zu integrieren.

VOLL50: Wie fordert man mit voll50 den inneren Zensor zum Tanzen auf?

Andrea Kirchtag: Der innere Zensor ist mein längster Vertrauter, Freund und Feind zugleich. Er ist immer bei mir und er nervt oft. Ich habe allerdings auch für mich entdeckt, dass ich eine innere Beraterin – eine innere Mentorin – ebenso habe. Und wenn der innere Zensor wieder einmal zu viel herumkritisiert, dann bitte ich diese innere Mentorin um ihre Unterstützung. Und diese innere Mentorin argumentiert so gut und stark, dass sich der innere Zensor „verzieht“ und Ruhe gibt. Bestimmt und liebevoll wird er dann für eine Zeit lang „in den Urlaub geschickt“ oder er darf sich wie eine Katze auf der Ofenbank ausruhen. Getanzt habe ich mit dem inneren Zensor noch nie – aber vielleicht sollte ich ihn einmal zum Tanz auffordern – mal schauen, was dann passiert.

www.frau-und-arbeit.at

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