„Verantwortung bedeutet auch, Antworten zu finden“

Angelika Kail wünscht sich mit Voll50 mehr denn je, dass mehr Menschen Selbstverantwortung für sich übernehmen.

VOLL50: Macht dir Verantwortung mit Voll50 mehr Spass?

ANGELIKA KAIL: Verantwortung zu übernehmen hat mir immer schon Spaß gemacht, allerdings macht es mir mit 50 mehr Spaß, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, anstatt für andere. Ich fühle mich nicht mehr so verantwortlich, für andere mitzudenken oder ihnen etwas abzunehmen. Ich fühle mich auch für wesentlich weniger zuständig, als ich das früher getan habe. Ich habe den 50er in dieser Hinsicht in gewisser Weise als Befreiung erlebt. Im Wort ‚Verantwortung‘ steckt ja auch das Wort ‚Antwort‘ mit drin. Verantwortung heißt für mich also auch, Antworten zu finden. Die finde ich heute mehr in mir selbst als in jüngeren Jahren, als ich mehr nach außen orientiert war. Ich fühle mich weniger zuständig, Antworten für andere finden zu müssen. Ich bin aber verantwortlich dafür, meine eigenen Antworten zu finden und mir gegebenenfalls Unterstützung zu holen für all jene Fragen, auf die ich keine Antworten finde. Verantwortung übernehmen für mein eigenes Denken, Fühlen und Handeln gehört genauso zu einem verantwortungsvollen Leben, wie meine Projektionen zurück zu nehmen, nicht mehr andere Menschen für mein Wohlbefinden verantwortlich zu machen, mein Verhalten selbst steuern und mein Leben selbst gestalten zu können. Das macht definitiv Spaß, selbst wenn es mitunter anstrengend wird!

Und da wünsche ich mit 50 mehr denn zuvor, dass das mehr Menschen in dieser Form für sich übernehmen: Selbstverantwortung nämlich. Bei einem selbst ist die Verantwortung nämlich zu 100% richtig übernommen. Ausgenommen natürlich Menschen, die aus alters-, gesundheitlichen oder sonstigen Gründen nicht dazu in der Lage sind.

VOLL50: Wie hat sich Dein Blick auf das Helfen mit Voll50 verändert?

ANGELIKA KAIL: Ich sehe mich in diesem Alter sehr in einem gebenden und beitragenden Modus. Ich möchte gerne meinen Beitrag in der Gesellschaft leisten, einen Anteil daran haben, dass ein menschliches Miteinander gelingen kann. Dies ist mir auch dadurch möglich, dass ich in einem gesunden Maße Selbstverantwortung übernehme. Mit meinen Ressourcen gut im Blick und auch gut im Griff macht es mir mehr Freude, meine Potenziale auch zu Gunsten einer Allgemeinheit einzusetzen.

In diesem Sinne heißt ‚Helfen‘ mit 50 für mich viel mehr ‚einen gesunden Beitrag leisten‘. Wenn erst einmal das Helfersyndrom und alle darin wurzelnden ungesunden Selbstansprüche aufgegeben sind, kann Beitrag leisten gelingen – dann nämlich nicht mehr aus einer Selbstaufgabe oder Selbsterhöhung heraus, sondern aus einem klaren Bewusstsein über das eigene Selbst und einer realistischen Einschätzung eigener Fähigkeiten, Schwächen und Begabungen.

Ich habe im Laufe meines Lebens ein sicheres Gefühl dazu entwickelt, wann jemand wirklich meine Hilfe benötigt, oder es sich vielmehr um eine andere Motivation desjenigen handelt. Ich traue es Menschen zu, ihre Probleme selbst zu lösen, denn ich habe die felsenfeste Überzeugung, dass der Mensch immer stärker ist als seine Probleme. Insofern gebe ich – was natürlich auch ein beruflicher Anspruch von mir ist – gerne Hilfe zur Selbsthilfe, lasse die Probleme aber grundsätzlich lieber bei ihren Besitzern – aus Respekt und Wertschätzung für die Kraft und Ressourcen, die in jedem einzelnen stecken!

VOLL50: An welchen heilenden Moment in Deinem Leben erinnerst Du Dich am liebsten?

ANGELIKA KAIL: Heil sein heißt für mich ganz sein. Insofern sind heilende Momente in meinem Leben all jene, in denen es mir gelingt, ganz zu sein bzw. ein Stück ganzer zu werden. Ein sehr heilender Moment war für mich eine berufliche Begebenheit: Ich habe einen Auftrag zurückgelegt, den ich übernommen und für den ich mich seitdem zuständig gefühlt hatte – was ja grundsätzlich auch so ist, wenn man etwas aus freien Stücken übernimmt. Ich habe den begonnenen Auftrag abgebrochen, da sich währenddessen herausstellte, dass mein persönliches Wertebild nicht mit den Anforderungen des Auftrages kompatibel war. Ich hätte also entgegen meinen Werten weiterarbeiten können oder zu meinen Werten stehen können. Es fiel mir anfangs sehr schwer, diese Entscheidung zu treffen, da mein durchaus hohes Pflichtgefühl mir einreden wollte, dass ein einmal übernommener Auftrag auch bis zum Ende ausgeführt gehörte, egal, was geschieht. Nach einigem Hin und Her und ein paar Stunden Supervision habe ich mich entschieden, allen pflichtbewussten inneren Stimmen zum Trotz den Auftrag zurückzulegen. Nach anfänglichem Hadern und Was-wäre-gewesen-wenn-Überlegungen hat sich schließlich ein klares Gefühl eingestellt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. In diesem Moment konnte ich rückwirkend auch all jene Momente in meinem Leben heilen, in denen ich entgegen mein Wertesystem in Situationen verharrt habe, die mir nicht gutgetan haben. Ich habe einen wichtigen Persönlichkeitsanteil ‚nach Hause geholt‘: den Teil in mir, der zu sich stehen kann, egal, was andere sagen oder denken. Das hat mich ein wenig ganzer, heiler gemacht.

VOLL50: Dient man mit Voll50 sinnvollerweise sich selbst oder den anderen?

ANGELIKA KAIL: Sinnvollerweise dient man beiden bzw. kann man den anderen auch erst richtig ‚dienen‘, wenn man gelernt hat, sich selbst zu dienen. Und ich glaube, um das in seinem Leben wirklich zu lernen, zu verstehen und zu integrieren, braucht es durchaus 50 Lebensjahre…Ich finde am ‚Dienen‘ nichts Schlechtes, sofern man es als ‚Beitrag leisten‘ begreifen kann. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch gerne einen Beitrag leistet – in einem gesunden Maße und seinen Ressourcen entsprechend. Ich bin auch überzeugt, dass jeder Mensch Ressourcen im Sinne von Fähigkeiten und Begabungen im Leben bekommen und entwickelt hat, um diese letztlich der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. In dieser Hinsicht ist uns die Natur ein schönes Vorbild: nichts wird verschwendet. Auch die Ressourcen jedes einzelnen Menschen sind nicht zum Verschwenden da, sondern, um sie – in einem gesunden Maße – der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.

Mit einem klaren Bewusstsein über diese eigenen Ressourcen und mit der nötigen Selbstkenntnis und Selbstverantwortung macht es Freude, diese Ressourcen auch den anderen zur Verfügung zu stellen. Das empfinde ich als ‚Dienen‘. Es hat rein gar nichts mit untertänig oder abhängig sein oder sich ausnutzen lassen zu tun, sondern bedeutet für mich ein Zur-Verfügung-Stellen eigener Fähigkeiten zu Gunsten einer Gemeinschaft, also ein freiwilliges Geben. Diese Fähigkeiten von Menschen sind völlig unterschiedlich und selbst wenn zwei Menschen dieselben Fähigkeiten haben, dann setzen sie sie völlig unterschiedlich ein oder interpretieren diese Fähigkeiten auf verschiedene Art. Ich bin überzeugt, dass es jeden Menschen in ganz genau seiner Einzigartigkeit braucht, um in dieser Gemeinschaft zu ‚dienen‘ – aus Freude an der Sache, aus Bewusstsein über die Wichtigkeit des eigenen Beitrags, aus Wunsch am sinnvollen Tun.

Ich glaube also, wenn man richtig gelernt hat, sich selbst zu dienen, dann dient man auch gerne anderen, der Gemeinschaft. Wenn man das eigene Ego erstmal gezähmt oder zurückgestellt hat, dann gewinnt man wieder Freude, in einem gesunden Maße für andere da zu sein. Dieses ‚Dienen‘ an der Gemeinschaft gewinnt für mich mit jedem Jahr mehr an Bedeutung. Es bedeutet für mich immer mehr ich selbst sein, ganzer werden, sichtbarer werden, meinen Platz in dieser Welt einzunehmen und das zur Verfügung zu stellen, was ich vom Leben geschenkt bekommen habe. Mir persönlich ist das nicht nur Anspruch, sondern vor allem Bedürfnis!

VOLL50: Fängt die Suche nach dem Sinn des Lebens mit Voll50 an, hört sie auf oder wird sie weniger wichtig?

ANGELIKA KAIL: Ich glaube, dass wir mit 50 vielleicht mehr die Chance haben, zu erkennen, dass man den Sinn des Lebens weniger findet, als sich selbst gibt.

Durch Auseinandersetzung mit wichtigen Lebensfragen (Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?) kann der Hunger gestillt werden, der die ständige Suche vorangetrieben und zu so mancher exzessiven Lebensweise geführt hat.

Persönlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass es mir gut geht, wenn ich meinem Leben selbst Sinn schenke. Durch (An)Erkennen meiner Fähigkeiten, durch tieferes Verständnis für meine Biografie, durch Respekt für meine Schwächen und emotionalen Wunden, durch Selbst-Entdeckung kann ich das Puzzlespiel fortsetzen, als das ich mein Leben betrachte. Ereignisse bekommen rückblickend Sinn und ich verstehe mein Leben in einem größeren Zusammenhang. Dadurch gewinnt es an Leichtigkeit, an Tiefe und an Freiheit. Insofern wird die Suche wohl im Laufe des Lebens weniger wichtig, nämlich dann, wenn es gelingt, sie in ein Sinn geben zu verwandeln.

Mehr über Angelika Kail: www.angelika-kail.at

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