„Das Projekt ICH ist noch lange nicht abgeschlossen“

Wenn man sich wie Sigrid Leutgeb-Webersdorfer dazu entschließt, so zu leben, wie man es will, tut sich einiges in der eigenen Biographie. Und herauskommen kann ein wunderbares, neues Leben.

VOLL50: Welches Projekt sollte mit voll50 an oberster Stelle stehen?

Sigrid Leutgeb-Webersdorfer: Das eigene ICH, die eigene Person. Das ist sowieso ein Projekt, dass wahrscheinlich keine Deadline hat, sondern vom ersten Tag der Geburt bis zum letzten Tag im Leben immer ein Projekt bleibt, aber halt unterschiedliche Phasen hat.

So ist man als Kind noch stark von den Eltern abhängig, als Jugendliche findet man Eltern uncool und orientiert sich an Freunde und Menschen außerhalb der Familie. Irgendwann verliebt frau sich, gründet eine Familie oder auch nicht. Die eigene Person ist da aber auch nicht so im Fokus. Die Karriere ist wichtig, somit wieder eine Orientierung außerhalb des eigenen Ichs, um vielleicht der Gesellschaft, einzelnen Personen zu entsprechen und deren Erwartungshaltung zu erfüllen. Ich habe mit etwa 48 Jahren begonnen, mich auf mich zu konzentrieren, ohne egoistisch zu sein, aber mir wurden einfach mein Ich, meine Empfindungen, meine Gedanken, meine Gefühle, mein Fokus auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben wichtiger, trennte mich von Menschen, die mir nicht gut taten, begann Hobbies, wie beispielsweise das Klettern, das ich davor nicht tat, da mein Ex-Mann dies nicht wollte. Ich begann mein Leben auf meine Bedürfnisse auszurichten und merkte, dass es mir so richtig gut ging.

Ich begann zu LEBEN, so wie ich es wollte, und das hat sich auch mit 53 Jahren nicht geändert. Ich bin nun wieder verheiratet, bin relaxt und gestalte mein wunderbares Leben bewusst so, dass meine Bedürfnisse, mein Ich nicht zu kurz kommen. Ich habe vor zwei Jahren meinen verdammt gut bezahlten Job aufgegeben, weil ich nicht mehr fremdbestimmt sein wollte. Ich wollte Frau meiner Zeit sein und bin in die Beratung gegangen, arbeite jetzt wahrscheinlich mehr als zuvor und verdiene viel weniger, kann mir meine Zeit einteilen und bin drei bis vier Monate im Jahr auf Urlaub. Was noch kommen wird, weiß ich nicht. Ich weiß jedoch, dass ich auf meine Bedürfnisse höre, mein Leben in die Hand nehme und das mache, was Spaß macht.

Also, um auf die Frage zu Beginn noch mal zurückzukommen – ja, ICH stehe im Mittelpunkt, und das Projekt ICH ist noch lange nicht abgeschlossen. Und das ist gut so!

VOLL50: Welche Einrichtungsgegenstände sollte das innere Zuhause unbedingt haben?

  • Selbst-Vertrauen und Selbst-Bewusstsein, um das Projekt ICH am Ende gut abschließen zu können und keine Wehmut der Versäumnis zu verspüren
  • Freiheit, verbunden mit Neugierde und Offenheit, um für Veränderungen immer offen zu sein und die unterschiedlichen Wege, die frau im Leben beschreiten kann, nicht zu übersehen.
  • Empathie, Liebe und Anteilnahme, um auch das Geben nicht zu vernachlässigen
  • Ungeduld, um im Leben nicht still zu stehen
  • Zufriedenheit, um das genießen zu können, was ist
  • Glück wahrscheinlich auch, wobei mir die Zufriedenheit wichtiger ist
  • Krisen, um sich weiterzuentwickeln und zu lernen
  • Raus aus der Komfortzone, um die Herausforderungen des Lebens proaktiv anzunehmen und zu gestalten

Ich denke, das innere Zuhause ist schon gut eingerichtet, und die noch freien Räume sind dazu gedacht, für Ungeplantes noch Space zu haben. Ich möchte nicht alles verstellen ….. 😉

VOLL50: Wann kann Frau mit voll50 stolpern, auch wenn sie einen Schritt nach dem anderen macht?

Sigrid Leutgeb-Webersdorfer: Das ist eine sehr gute Frage. Ich würde es aber nicht stolpern nennen, sondern Weiterentwickeln oder Lernen. Also sinngemäß – hinfallen – Krone richten – aufstehen – weitergehen und beim nächsten Stolpern – das Gleiche …., aber nie stehen bleiben!!!

VOLL50: Ist Geduld eine Qualität oder eine Qual?

Sigrid Leutgeb-Webersdorfer: Weder – noch oder beides! Ich persönlich empfinde Geduld dann als Qualität, wenn dies mit Gelassenheit und Zufriedenheit zu tun hat, also wenn ich so richtig in meiner Mitte bin und selbst entscheide, was ich will und was mir gut tut. Für mich wird Geduld haben MÜSSEN zur Qual, wenn ich nicht will, aber muss, also mir dies von außen diktiert wird. Da kann es gut sein, dass ich ausbreche und dann selbst entscheide, ob ich geduldig sein will oder ungeduldig. Das heißt, für mich ist der entscheidende Punkt, kann ICH Geduldigsein selbst zu entscheiden oder nicht.

VOLL50: Was ist mit voll50 die wichtigste Facette von Selbstachtung?

Sigrid Leutgeb-Webersdorfer: Eine wunderschöne Frage, mit der ich mich sehr gerne auseinandersetzen mag. Die wichtigste Facette von Selbstachtung ist für mich, sich selbst anzunehmen – mit allem, was mich ausmacht, mit allen Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen, und dass ich mir selbst und anderen Liebe schenken und Empathie entgegenbringen kann.

Eine weitere Facette von Selbstachtung ist für mich, das eigene Verhalten an der eigenen Werteorientierung ausrichten zu können und meine Werte nicht zu verleugnen, nur um es anderen recht zu machen. Übrigens – für mich ein echter Luxus mit voll50. Und somit schließt sich der Kreis zur ersten Frage wieder! Frei nach dem Motto: Das Leben ist – so wie es ist – schön, von einfach war nie die Rede 😊

„Endlich Zeit, auf das Herz zu hören“

Anstöße, die eigene Biographie gerne zu teilen, gibt es viele, sagt Gudrun Winklhofer – vor allem wenn man ein Leben wie sie geführt hat, das zuerst vom Niederreißen und dann vom Bewahren erzählt.

VOLL50:Was will frau mit voll50 noch niederreißen?

Gudrun Winklhofer: Niederreißen sollen wir Frauen die Vorstellung, es allen recht machen zu müssen – egal, ob mit 30, 40, 50 oder wann immer. Niederreißen sollen wir auch die verfestigten Glaubenssätze, die uns Grenzen setzen und unsere Kreativität daran hindern, sich frei zu entfalten. Gerade dann, wenn wir mit voll50 mitten im Leben stehen. Die gelebten Jahre haben uns so vieles gelehrt. Wir haben gute und schlechte Erfahrungen gesammelt. Andere Menschen haben durch uns diese Erfahrungen gemacht. Haben wir jemanden verletzt, denken wir oft viel zu lange darüber nach. Auch wenn wir uns entschuldigt haben, bauen wir Mauern aus schlechtem Gewissen auf, diese sollten wir ebenfalls niederreißen. Viele Frauen – ich kenne einige – reißen mit voll50 alles nieder und schaffen Platz für sich und ihre Interessen. Die Familiensituation hat sich geändert, der Beruf macht keine Freude mehr. Endlich Zeit, auf das Herz zu hören und etwas Neues zu wagen.

„Niederreißen“, ein starkes Wort. „Gestalten“ gefällt mir persönlich in mancher Hinsicht besser. Vergleiche ich mein Leben mit einem Garten, habe ich viele Bäume, Sträucher und Blumen angepflanzt, gehegt und gepflegt. Habe sie mit Wasser und Nährstoffen versorgt, von welken Blättern und Blüten befreit, mit ihnen gesprochen und liebevoll ihre Blätter, Stängel und Stämme berührt. Trotz meiner Fürsorge haben nicht alle Pflanzen überlebt. So wie in einem Garten ist es auch in meinem Leben: Seit je her bin ich mehr oder weniger heftig am Umgestalten. Manche Entscheidungen – Trennungen, mein Umzug nach Spanien, fünf Jahre später die Rückkehr nach Österreich und viele andere Meilensteine – waren für mein Umfeld nicht so leicht nachvollziehbar. Wie viele Menschen haben mich insgeheim wohl für verrückt erklärt? Das möchte ich gar nicht wissen, es ist ja auch egal, es ist mein Leben. Niederreißen. Verändern. Erneuern. Für mich hat es sich angefühlt, als müsste ich fest verwurzelte Bäume ausgraben. Das war anstrengend! Und hat oft wehgetan! Und hat mich viel Kraft und Tränen gekostet! Trotzdem habe ich einiges niedergerissen, aber das war fast alles vor meinem 50. Lebensjahr. Jetzt, mit Ende 50, möchte ich lieber das bewahren, was mir gut gelungen ist. Ich möchte meinen Garten des Lebens gestalten und pflegen. Und ich möchte der Freigeistin in mir und meiner Kreativität Raum geben (vor allem dem Schreiben, das neben meinem Hauptberuf als Taxiunternehmerin leider viel zu kurz kommt).

Mit einigen Glaubenssätzen hadere ich noch. Die muss ich tatsächlich noch niederreißen. Und vielleicht auch einmal die Mauern, die ich nach mehreren Enttäuschungen um mein Herz errichtet habe. Die Freigeistin in mir und ich arbeiten daran. 😉

Zum Gestalten und Verändern passt mein Lebensmotto, das ich für mich gewählt habe:

„Bleib nicht immer so, wie du bist,

aber bleib immer du selbst.“

(GW)

VOLL50: Woran merkst du, dass die Intuition den Kopf überrumpelt hat?

Gudrun Winklhofer: Das ist eine gute Frage! Das merke ich sehr oft, in dem ich dankbar dafür bin, den „richtigen Riecher“ gehabt zu haben. Oft kann ich gar nicht nachvollziehen oder erklären, warum ich mich für oder gegen einen Menschen, eine Sache oder eine Situation entscheide. Dann frage ich mich, warum in alles in der Welt die Winklhoferin jetzt DAS macht! So manches Mal bekomme ich die Bestätigung für die Richtigkeit meines Tuns recht schnell, manchmal erst sehr viel später. Es ist tatsächlich so: Während Kopf und Herz hin und her überlegen, abwägen und sich hin und wieder streiten, hat die Intuition als lachende Dritte längst entschieden … Wir alle – ich nehme mich da nicht aus, denn immer höre ich auch nicht auf mein Bauchgefühl – sollten hin und wieder den Verstand ausschalten und der Intuition vertrauen!

VOLL50: Was muss passieren, damit frau mit voll50 die eigene Biographie gerne mit anderen teilt?

Gudrun Winklhofer: Frau muss authentisch sein, zu sich, zu ihren Gefühlen und zu ihrer eigenen Geschichte stehen. Ob und wie sehr sie andere daran teilhaben lässt, hängt von vielen Faktoren ab. Ein gewisses Mitteilungsbedürfnis haben wir doch alle, nicht wahr? Vertraue ich jemandem, erzähle ich mehr über mich. Ich denke, Menschen, die künstlerisch/kreativ tätig sind, lassen andere näher an sich heran, denn in ihren Werken zeigen sie ihre Seele und damit ein kleines Stück ihrer Biographie. Fällt es in der Malerei mehr auf oder in der Bildhauerei? In der Musik oder in der Literatur? Für mich und meine Sprachverliebtheit sind es die Worte. Wenn ich selber an einem Text arbeite, frage ich mich auch oft: „Ist das jetzt zu persönlich?“ „Lässt das zu sehr auf meinen Gemütszustand schließen?“ „Will ich das jetzt mit mir in Verbindung bringen?“ Doch ohne Authentizität lebt kein Text, kein Musikstück, kein Bild.

Anstöße, die eigene Biographie gerne zu teilen, gibt es viele. Erfreuliche Erlebnisse, überwundene Hindernisse, besondere Erfolge, aber auch die (Sehn-)Sucht nach Anerkennung. Die sozialen Medien erleichtern es ungemein, sich – zumindest für eine kurze Zeit – in den Mittelpunkt zu stellen und das Selbstwertgefühl aufzupolieren. Bedenklich? Nur dann, wenn der Drang zur Selbstdarstellung überhand nimmt.

Um auf die oben gestellte Frage zu antworten: Passiert ist die Einladung zu diesem Interview. Die Fragen, die Du, Claudia, mir stellst, „zwingen“ mich, in die Tiefe zu gehen, mich mit mir auseinanderzusetzen und Antworten niederzuschreiben. Einige Momentaufnahmen meiner Biographie zu teilen. Obwohl mir bewusst ist, dass Dein Blog öffentlich ist. Kann schon sein, dass ich mir später denke: „Ui, das war jetzt doch sehr persönlich.“

VOLL50: Warum kann Beobachten manchmal befreiender sein als Eingreifen?

Gudrun Winklhofer: Beobachte ich, bin ich aufmerksam. Ich fokussiere mich auf das Geschehen, aber ich bleibe passiv. Beobachten kann ich auch im Stillen, unbemerkt. Ich ziehe das, was ich sehe, in mich hinein, sauge die Eindrücke auf. Eingreifen resultiert aus einer Emotion – Freude, aber auch Ärger oder Wut. Greife ich in das Geschehen ein, werde ich aktiv, bin voll da, gehe aus mir heraus und zeige Präsenz. Dazu braucht es manchmal Mut.

Ich beobachte gerne. Alles um mich herum. Menschen, in deren Gesichtern sich Freude zeigt. Innige Begrüßungen am Flughafen. Das rasch wechselnde Farbenspiel des Morgen- oder Abendrots. Bäume, deren Blätter vom Wind sanft bewegt werden. Schlafende Hunde oder Katzen; so beruhigend. Die Vögel am Vogelhaus und die Libellen über dem Teich. Die Stockente, die sich das Hochbeet für ihr Gelege ausgesucht hat und zwischen Mangold, Rucola und Schnittlauch brütet. Die Spatzen, die in der Erde ihr Staubbad nehmen. Hummeln und Bienen, die von Blüte zu Blüte fliegen. Am Himmel ziehende Wolken. Züngelnde Flammen im Kamin. Wellen, die die Wasseroberfläche kräuseln. Die Weite des Meeres. Beim Beobachten – gerade in der Natur – kann ich die Gedanken ziehen lassen und Kraft tanken. Beobachten befreit. Die Freigeistin in mir mag das. Ich bin die Beobachterin, die viele Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben. Das heißt aber nicht, dass ich nicht eingreife, wenn eine Situation es erfordert.

VOLL50: Auf welche Sprache sollte frau mit voll50 zurückgreifen, wenn sie mit ihrem Latein am Ende ist?

Gudrun Winklhofer: Na, dann greife ich auf Deutsch, Englisch oder Spanisch zurück … Scherz beiseite, das ist wieder so eine vielschichtige Frage.

Frau kann über sich selbst lachen und damit jede Situation entspannen. Sie kann ihrem Gegenüber ein entwaffnendes Lächeln oder eine Umarmung schenken. Frau kann aber auch einmal verbal auf den Tisch hauen und ihre Gefühle zeigen. Jedenfalls sollte sie authentisch sein und sich weder verstellen noch verbiegen. Manchmal bin ich auch mit meinem Latein am Ende. Wenn in einem Gespräch meine Argumente konsequent ignoriert oder nicht akzeptiert werden. Wenn ich einfach niedergeredet werde. Wenn mich jemand um Rat fragt und gar nicht bereit ist, diesen anzunehmen. Wenn ich zwischen zwei Personen vermitteln oder mich gar auf die eine oder die andere Seite stellen soll. Wenn ich mir eingestehen muss, einen kompletten Blödsinn gemacht zu haben. Ich ziehe mich erst einmal zurück, um die für mich unangenehme Situation zu verlassen. Denke nach über Gesagtes und nicht Gesagtes. Schreiben hilft dabei, die verknoteten Gedanken zu entwirren. Wenn Du mich also fragst, auf welche Sprache frau zurückgreifen soll, ist es für mich die Schriftsprache, die mich wieder auf den Weg bringt.

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Genügend Lebensweisheit für den richtigen Weg

Voll50 zu sein, ist kein Garant für Einsicht, sagt Alexandra Eichenauer-Knoll. Und doch sieht sie es als eine Aufgabe für Frauen in unserem Alter, jungen Menschen ethische Grundlagen anzubieten und sie zu unterstützen.

VOLL50: Was macht mit voll50 Charisma aus?

Alexandra Eichenauer-Knoll: Ich denke, es hat viel mit Authentizität zu tun, also auch mit Ehrlichkeit. Wer bin ich, was sind meine Anliegen, wofür stehe ich und auch – was kann ich nicht, wo sind meine Schwächen? Die Umstellung auf meine echte Haarfarbe war eine harte Schule, das Hadern mit dem Spiegelbild. Jetzt genieße ich es, niemanden etwas vorspielen zu wollen. Es macht mich freier für das Wesentliche. So ist es auch, wenn wir einen Standpunkt beziehen: je klarer und ehrlicher, desto einfacher letztlich. Ich versuche das auch beim Schreiben, ehrlich zu sein, hinspürend und die Welt aus meinem Erfahrungshorizont zu erklären. Das bedeutet auch zuzugeben, dass dieser begrenzt ist.

VOLL50: Wieviel Demut liegt im Mut?

Alexandra Eichenauer-Knoll: Ganz viel, meine ich. Aber zuerst braucht es, glaube ich, etwas anderes: Im Yoga üben wir mit tapas, was Disziplin, aber auch Begeisterung für eine Sache meint. Mit der Konsequenz wächst die Selbstwirksamkeit, und damit auch ein Gefühl für das, was ich mir zu-muten kann, körperlich, aber auch psychisch. So gesehen kommt der Mut auch aus der Erfahrung. Über-mut tut sprichwörtlich selten gut, weil er leider oft auf einer Fehleinschätzung, also auf einem Erfahrungsmangel, beruht. Demut setzt für mich die Bereitschaft voraus, zutiefst loszulassen, von all meinen Vorstellungen und Erwartungen. Das heißt aber auch, möglicherweise loszulassen von all dem, was ich mit meinem Üben und meiner Konsequenz erreicht habe, um zu erkennen, dass es vielleicht ganz etwas anderes braucht. Es nicht leicht, den Mut zu haben hinzusehen und sich einzugestehen: Was braucht es gerade jetzt wirklich?

VOLL50: Welcher ethische Wert ist mit voll50 wichtiger als mit 30?

Alexandra Eichenauer-Knoll: Als Yogalehrende beziehe ich mich in ethischen Fragen auf die Yoga-Sutren, genauer auf die fünf Yamas – Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Rechtsdiebstahl, gemäßigter Lebenswandel und Nicht-Horten. Ich habe versucht, diese in meinem Buch durchzudenken und auch persönliche Beispiele zu geben. Ich könnte allerdings nicht sagen, dass ein Wert mit voll50 wichtiger ist als mit voll30. Ich denke, das ist individuell auch ganz verschieden. Viele sehr junge Leute setzen sich gerade jetzt für Zukunftsthemen, wie Umweltschutz oder geflüchtete Menschen, ein. Ich würde eher sagen, dass es ganz allgemein wichtig ist, Aktionen und Taten durch ethische Grundlagen zu festigen, damit es nicht bei oberflächlichem Aktionismus und provokanten Sagern bleibt. Vielleicht ist es unsere Aufgabe als Frauen mit voll50, darauf mehr hinzuweisen beziehungsweise Unterstützung zu bieten.

VOLL50: Wie erkennst Du Selbstsabotage-Mechanismen?

Alexandra Eichenauer-Knoll: Es ist uns oft gar nicht bewusst, wie sehr unsere Handlungen und Entscheidungen von Emotionen, aber auch von inneren Sagern beeinflusst werden. Ich habe auch einige solcher Sprüche, die ich unreflektiert in meinen Teenagertagen aufgeschnappt habe und die seit damals weiterwirken. In der Yogafürsorge spricht man von Svadhyaya, der Kunst der Selbsterforschung. Wie sehr steuern meine Gefühle meine Gedanken, welche Art Gedanken tauchen bei mir auf, welche Treiber werden mir bewusst, wenn ich zum Beispiel über mein Leben nachdenke? Da kann auch Schmerz aufkommen, Wut über andere und vertane Chancen. Ich finde es sinnvoll, sich diese konkreten Fragen im stillen Rückzug zu stellen. Es bringt Klarheit und erst, wenn mir etwas bewusstgeworden ist, kann ich mich auch bewusst davon verabschieden. Im Yoga geht es viel um das Auflösen – von körperlichen Anspannungen und Blockaden, aber auch von negativen Gefühlen und unheilsamen Verhaltensmuster im Alltag. Es ist wichtig, liebevoll, verzeihend und humorvoll zu sich selbst zu sein und keinen Druck aufzubauen. Alles braucht Zeit.

VOLL50: Kommt man mit voll50 dem inneren Kind näher oder entfernt man sich eher davon?

Alexandra Eichenauer-Knoll: Ich bin keine Psychotherapeutin und arbeite nicht mit dem Konzept des inneren Kindes. Soviel ich weiß, steht es im übertragenen Sinn auch für Intuition und Bauchgefühl. Als Yogapädagogin unterrichte ich das hinspürende Ankommen im Bauchraum, auch mit dem Ziel das Grundvertrauen zu stärken. Und wir üben uns im Loslassen von Konzepten, was uns frei macht für Intuition. Es ist, so sehe ich das, eine bewusste Entscheidung, will ich das üben oder nicht? Ich kann mein Grundvertrauen und meine Intuitionsfähigkeit stärken, oder ich kann mein Misstrauen füttern und denen glauben, die am lautesten schreien. Frauen mit voll50 haben genügend Lebensweisheit, diese Weggabelung zu verstehen und den richtigen Weg zu gehen. Aber es braucht Mut und die Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das Alter alleine ist kein Garant für Einsicht.

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JETZT ist die Zeit!

Mit voll50 sollte man viele Hintertüren offen haben, vor allem jene zur Natur. Sie bringt die Gelassenheit, die Astrid Stockinger für ihr vielfältiges und buntes Leben braucht.

VOLL50: Wie sollte frau sich mit voll50 fühlen, wenn sie sich selbst beim Leben beobachtet?

Astrid Stockinger: GELASSEN UND FREUDVOLL. So würde ich gerne durchs Leben schreiten, das wäre zumindest mein Ziel. 😀 Für mich war mein 47. Geburtstag eine Zäsur, da wurde mir schlagartig bewusst, dass ich nicht alles, was mir große Freude bereitet, auf später verschieben kann, dass jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit (eher sehr sicher) die erste Lebenshälfte vorbei ist. Und für vieles, was ich anpacken oder schlicht genießen möchte, JETZT der richtige Zeitpunkt ist. Davor bin ich mal mehr, mal weniger durchs Leben gehetzt. Schule, Studium, Anstellung, Kinder, Selbstständigkeit, politisches Engagement und, und, und … Und mir immer wieder gedacht, nächstes Jahr würde ich gerne mal …JETZT nehme ich mir mehr Zeit für Entscheidungen, was die nächsten Schritte/Projekte sind, die ich angehen möchte. Und ob ich das wirklich will. Ich habe gelernt, Nein zu sagen. Ich nehme mir meine Auszeiten und genieße diese wesentlich mehr. Ich schaffe es mittlerweile auch, mich nicht überall mit 1000% reinzusteigern. Also Gelassenheit gelingt mir zunehmend besser … Freude kommt auch immer wieder auf, trotz der aktuellen Weltlage.

VOLL50: Welche Hintertüre ist im Idealfall sperrangelweit offen?

Astrid Stockinger: VIELE. Ich kann mittlerweile beinahe jederzeit NEIN sagen, wenn ich etwas nicht mehr möchte. Oder wenn das Leben mich aus einem Weg katapultiert. Es gibt so viele Möglichkeiten. Und da ich immer schon auf vielen Hochzeiten getanzt habe, mache ich mir wenig Sorgen, irgendwann mal in einer Sackgasse zu stecken. Ich habe es mittlerweile öfter erlebt, dass sich meine berufliche oder private Situation komplett geändert hat. Und im Nachhinein hat es sich immer als Segen erwiesen. Mit Gelassenheit auf das, was kommt, zu blicken, ist extrem wertvoll. Das konnte ich früher nicht.

VOLL50: Wie weit haben sich mit voll50 Träume und Talente umarmt?

Astrid Stockinger: Es wird zunehmend besser. Ich akzeptiere meine Stärken und Schwächen und betrachte mich selbst wesentlich liebevoller, als in meinen 20er oder 30er Jahren. Das tut unglaublich gut. Ich denke, ich war noch nie in meinem Leben so zufrieden. Ich kann zunehmend annehmen, was ist, und akzeptieren, wenn etwas nicht nach meinem Kopf läuft. Aber natürlich nicht immer, sonst wäre ich keine Steinböckin. Diese vielzitierte Altersweisheit ist vielleicht genau das, mit Gelassenheit annehmen was ist und sich mit Selbstbewusstsein gezielt dafür einsetzen, was einem wichtig ist.

VOLL50: Was ruft die innere Stimme bei Ruhelosigkeit?

Astrid Stockinger: „Geh in den Wald!“. Ich habe mit Beginn der Covid-19-Pandemie das Wandern und ausgiebig durch den Wald spazieren für mich entdeckt, und es tut einfach unglaublich gut. Ich finde es so schön, dass in Japan „Waldbaden“ als Therapie angeboten wird. Überhaupt ist meines Erachtens die Natur unsere größte Freundin und ich bin froh, dass das zunehmend mehr Menschen entdecken.

Auf der anderen Seite regt mich diese Sorglosigkeit, mit der Umwelt und Tiere ausgebeutet werden, extrem auf. Dass muss sich rasch ändern. Zum Glück erkennen das auch immer mehr Menschen. Ich danke den jungen und älteren Menschen, die Freitag für Freitag auf die Straßen gehen. Ich selbst setze mich seit 2014 politische für den Umweltschutz ein. Weil es für mich irgendwann nicht mehr gepasst hat, mit Entsetzen die Schlagzeilen zu lesen und sich über die Gier der Konzerne aufzuregen, aber nichts konkret dagegen zu tun.

VOLL50: Welches Muster hat das voll50-Meisterwerk?

Astrid Stockinger: Bunt, vielseitig und doch wunderschön harmonisch. So wie meine verschiedenen Berufe, Interessen und Tätigkeiten mittlerweile zu einem großen Ganzen verwoben sind. Ich merke, dass wirklich jede Erfahrung, die ich gemacht habe, mich in meinem jetzigen Hauptberuf – ich berate geflüchtete Menschen und Drittstaatangehörige bei der Arbeitssuche -, aber auch bei meiner politischen Arbeit von unschätzbarem Wert sind. Meine Werbeagentur ist mittlerweile etwas in den Hintergrund gerückt, aber ich mag es immer noch sehr, Menschen im Bereich Werbung und Marketing zu unterstützen. Ich liebe die Abwechslung und lerne immer noch gerne Neues. Diese Neugierde ist ein wunderbarer Motor und macht das Leben unendlich reich und bunt. Ganz besonders schätze ich die wundervollen Menschen und Freundschaften, die ich in meinen Lebensjahrzehnten „gesammelt“ habe. Ohne diesen wäre das Leben nur halb so schön.

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Denkvermögen behindert Spontanität

Dem inneren Kind zuhören und weniger denken – dazu rät Voll50-Frau K. Maria Ruland. Alles andere blockiert den Zugang zum Bauchgefühl, sagt sie.

VOLL50: Welche Rolle spielt Naivität noch mit voll50?

K. MARIA RULAND: Es wäre gelogen, zu behaupten, sie wäre nicht mehr vorhanden. Es gibt sie noch immer, diese Naivität – zumindest bei mir. Allerdings ist es recht hilfreich, sich ihrer bewusst zu sein mit Mitte 50 und ihr dadurch nicht mehr ausgeliefert zu sein.

VOLL50: Wie kann frau ihre Vielseitigkeit neu entdecken?

K. MARIA RULAND: Indem sie sich überlegt, was sie als Kind gerne gemacht hat, was sie immer tun wollte in vielbeschäftigten Zeiten und nie die Gelegenheit dazu fand. Ich denke, auch wenn sie sich einfach einmal traut, aus der Gewohnheit auszubrechen und Neues ausprobiert, ein bisschen bunter ist, ein bisschen lauter, ein bisschen frecher nach dem Motto: „Think a little less, live a little more.“ Vielleicht auch, wenn sie sich vom Zeitgeist inspirieren lässt oder sich intensiv mit Kindern befasst.

VOLL50: Wann ist Denkvermögen mit voll50 mitunter hinderlich?

K.MARIA RULAND: Tja, das halbe Jahrhundert Denken hat nun leider bei den meisten von uns nicht nur gute Erfahrungen mit sich gebracht und diese machen sich dann in Vernunftdenken bemerkbar. Daran leidet dann manchmal die Spontanität und das Handeln aus dem Bauchgefühl heraus, wie ich immer wieder feststelle. Für mich persönlich ist das aber in Ordnung, inzwischen Entscheidungen etwas überlegter anzugehen.

VOLL50: Worin möchtest Du Dich nicht mehr einfühlen?

K. MARIA RULAND: In die Anforderung an mich, in möglichst allen Bereichen (Beruf, Ehefrau, Mutter, Tochter usw.) perfekt sein zu wollen. Ich genieße es fast täglich, dass mit den Jahren die Fähigkeit zunimmt, die Dinge einfach gelassener hinzunehmen, vieles einfach nicht mehr müssen zu müssen. Die Jahre, die wir noch haben, sind dann eher ein Dürfen und sich darüber freuen.

VOLL50: Welche Prioritäten sind mit voll50 ein Muss?

K. MARIA RULAND: Sich Zeit nehmen für sich, dafür sorgen, dass Psyche und Körper in guter Verfassung sind, sich mit Menschen umgeben, die uns gut tun und von den anderen Abstand halten. Offen bleiben für Neues und das Vergangene annehmen. Ich meine, dass man damit ganz gut gerüstet ist für die voll 60;-)

Kurz und knackig

Karolin Teufel-Eckey ist eine viel beschäftigte Frau. Und hat ihre Überlegungen zur Essenz eingedampft.

VOLL50: Woran merkt frau, dass andere auch ohne das Zutun von außen glücklich sind?

Karolin Teufel-Eckey: Am echten Strahlen, das von innen kommt.

VOLL50: Ab welcher Geschwindigkeit fliegt mit voll50 die rosarote Brille von der Nase?

Karolin Teufel-Eckey: Wir brauchen keine rosarote Brille, wir machen uns selbst die Welt bunt. Die Probleme von früher werden viel kleiner. Die meisten Dinge sind bei näheren Betrachten nicht mehr so schlimm und werden neu bewertet mit mehr Leichtigkeit.

VOLL50: Welchen Genuss kann es darstellen, mit voll50 auf dem Beobachterposten zu lehnen?

Karolin Teufel-Eckey: Man darf Zeuge werden, wie andere wachsen, groß werden und erblühen.

VOLL50: Warum ist es oft schwierig, die eigenen Wünsche auf den Tisch zu legen?

Karolin Teufel-Eckey: Weil wir Glaubenssätzen aus der Kindheit anhängen, die aussortiert gehören. Diese Glaubenssätze zu erkennen, anzunehmen und aufzulösen bedeutet, erstmal an sich zu arbeiten. Das ist kein einfacher Weg allerdings sehr lohnenswert. Das bereinigt die Gedanken und bringt ein hin zur Selbstliebe.

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„Die einzige Konstante in meinem Leben ist die Flexibilität“

Manchmal möchte Maria Alba Bonomo einfach nur den Mund halten und bei schönem Wetter ein Buch lesen. Doch das Leben ist für sie Veränderung, darauf ist sie eingestellt.

VOLL50: Welchen Grad von Perfektion empfindet man mit voll50 als Luxus?

Maria Alba Bonomo: Ich bin keine Perfektionistin. Mittlerweile gebe ich mich auch mit vielen Kompromissen zufrieden, weil ich merke, dass die Zeit für Perfektionismus nicht mehr reicht. Luxus empfinde ich, glaub ich, nicht und strebe ihn auch nicht an. Ich beschäftige mich noch mit dem Thema Zufriedenheit und Genuß. Vielleicht liegt es daran, dass ich zu viel im Kompromiss lebe und so bei jeder Situation und Gelegenheit noch diese kleine Verbesserung anzumerken habe (und sei es nur in Gedanken) – das ist eine schreckliche Eigenschaft, die ich loswerden sollte. Ich fordere sehr viel von mir selber und erwarte manchmal dasselbe von anderen, was natürlich nicht möglich ist. Zufrieden bin ich (leider) erst, wenn ich keinen finanziellen Druck habe, ansonsten bin ich unrund und kann nicht zur Ruhe kommen. Selbst wenn ich in der Natur bin, unser Hütte in den Bergen besuche oder im See schwimme – was für viele ein Luxus sein mag, aber wenn mich finanzielle Sorgen plagen, kann ich diesen Luxus nicht geniessen. Und wenn dann diese Seite mal passt, bekomme ich oft ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir das jetzt gönne oder ein paar Tage frei genieße – unglaublich blöd oder? Aber Luxus für mich wäre auf jeden Fall einfach Zeit zu haben, keine Termine oder elterliche Verpflichtungen, einfach zu überlegen: So, was mache ich dieses Wochenende – es steht nichts Wichtiges an – das wäre für mich Luxus, dann noch schönes Wetter, mal wieder ein Buch lesen und einfach nichts machen.

VOLL50: Wann verleiht Flexibilität Stabilität?

Maria Alba Bonomo: Die einzige Konstante in meinem Leben ist die Flexibilität. Egal was, ich kann mich sehr schnell auf alle möglichen Situationen einstellen. Man hat schon so viel erlebt und schöpft aus der Erfahrung. Mit drei Kindern plus Mann muss man immer flexibel sein. Man bereitet sich nicht vor auf „uups, ein Loch im Kopf, Hand gebrochen, Bus versäumt, oder Tochter vergisst Handy im Zug, eine Freundin kommt zum Essen – dann doch fünf Freunde und übernachten, komplettes Essen verbrannt“ und so weiter. In solchen Situationen muss man flexibel bleiben, und eine neue Richtung muss her. Ich weiss mittlerweile, dass es für alles eine Lösung gibt. Starre Lösungen und Vorgaben sind nichts für mich. Ich weiss, dass sich immer alles ändert.

VOLL50: Wofür lohnt sich mit voll50 ein Streit voller Lust?

Maria Alba Bonomo: Für gar nichts, ich finde Streiten grundsätzlich blöd. Und trotzdem tu ich es immer wieder, früher mit meinen Eltern, dann mit meinen Kindern und jetzt auch mit meinem Mann. Wenn ich mit jemandem nicht der selben Meinung bin und es laut wird, werde ich auch laut. Und ärgere mich anschliessend wahnsinnig über mich selber, warum ich nicht den Mund gehalten habe. Ich kann ja trotzdem meine Meinung haben. Ein Sieg im Streit ist eigentlich immer ein Verlust.

VOLL50: Was muss passieren, dass der Fels in der Brandung zu bröckeln beginnt?

Maria Alba Bonomo: Wenn ich mich alleine fühle, die Aufgaben und die Verantwortung zu viel für mich und mein Umfeld nichts abnimmt, aber immer weiter und weiter fordert. Und Situationen, auf die ich keinen Einfluss habe und mir Ungerechtigkeit widerfährt.

VOLL50: Wie verändert sich die Idee von Gemeinschaft mit voll50?

Maria Alba Bonomo: Wenn man das Beste für sich und andere möchte, dafür einsteht und sich gegenseitig hilft, es zu erreichen. Neid, Missgunst und Eifersucht haben da keinen Platz. Wenn ich meine Meinung, meine Träume, Wünsche einfach sagen kann, ohne dass sich jemand dadurch beleidigt oder verletzt fühlt. Wenn man gemeinsame Ziele hat und einen Plan schmiedet, wie man diese Ziel erreichen kann und sich dann gemeinsam über das Geschaffene freut. Wenn man gerne Zeit mit Menschen verbringt, von denen man weiss, dass sich auch gerne Zeit mit einem verbringen, ohne dass sie es müssen, weil sie in irgendeiner Art Abhängigkeit stehen (Mutter – Kind).

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Keine Abstriche bei der Dummheit

Claudia Braunstein durfte die Erfahrung machen, dass Scheitern gut für sie ausgehen kann und dass die Gedanken anderer nichts mit ihr selbst zu tun haben.

VOLL50: Wann ist Sprunghaftigkeit etwas Positives?

Claudia Braunstein: Sprunghaftigkeit kommt in meinem Wortschatz nicht vor. Ich empfinde das als total negativ.Es bedeutet für mich Inkonsequenz, dass sich jemand nicht entscheiden kann oder dass er/sie zehn Ziele gleichzeitig hat. Sprunghaftigkeit ist ein Attribut, das einfach nicht zu mir passt. Ich bin ein sehr bewegter Mensch, aber immer mit klaren Zielen vor Augen.

VOLL50: Wann kann der frische Wind mit voll50 etwas rauh werden?

Claudia Braunstein: Mein Bewegungsdrang hat sich seit meiner Krebserkrankung noch viel mehr intensiviert, weil man einfach das Bewusstsein bekommt, wie schnell die Zeit vorbei sein könnte. Und ich habe das Gefühl viel mehr, nichts versäumen zu wollen. Leider muss ich jetzt die Grenzen meines Körpers achten. Ich bin mehrfach behindert, was bedeutet, dass ich einfach nicht mehr so fit bin wie früher und schneller in eine körperliche Erschöpfung komme. Mein Körper zeigt mir das sehr deutlich, und ich bin auch sehr feinfühlig, was das angeht. Trotzdem gehe ich immer noch an Grenzen, aber ich weiß auch, wo die Grenzen sind. Natürlich hat das jetzt nicht nur mit meiner Krankheit zu tun. Ich werde im Herbst 60, und da muss man – auch wenn es schwerfällt – dass man sich in der Früh länger strecken muss, dass man nicht mehr so leicht aus dem Bett hüpft. Die Tatsachen, denen man so ungern in die Augen schaut, ist für mich der rauhe Wind.

VOLL50: Welchen Vorteil hat es, Ziele nicht zu erreichen?

Claudia Braunstein:Ich tue mir wahnsinnig schwer, mir ein Scheitern einzugestehen. Ich habe vor anderthalb Jahren einen Buchauftrag bekommen, einen Stadtführer für Salzburg zu schreiben. Ein absolutes Traumprojekt, auch in Corona-Zeiten. Und dann hat es angefangen, sich im Hintergrund derart zu spießen, auch finanziell. Und an Weihnachten habe ich plötzlich wirkliche Bauchschmerzen bekommen. Das Buch war zur Hälfte fertig, und trotzdem habe ich schweren Herzens beschlossen, es zu lassen. Ich hatte schlaflose Nächte wegen dieses Projekte und irgendwann beschlossen: ‚Ich will das nicht mehr.‘ Diese Entscheidung habe ich persönlich als ganz großes Scheitern empfunden. Letztendlich habe ich aber festgestellt, dass ich positiv aus dieser Geschichte heraus gekommen bin, indem ich die Reißleine gezogen habe.

VOLL50: Werden die Vorschriften mit voll 50 weniger?

Claudia Braunstein: Sowohl als auch. Ich merke für mich, dass ich für mich selbst entscheide, dass manches nicht mehr wichtig für mich ist, auch wegen meines Alters. Dass ich nicht mehr faltenfrei, dass der Po nicht mehr knackig ist, obwohl es mich stört. Doch dann merke ich, dass nicht ich das Problem bin, sondern die gesellschaftlichen Anforderungen. Gerade in der Social Media-Welt begegnen einem tagtäglich Frauen zwischen 50 und 60, die aussehen wie ihre eigenen Töchter. Ich kenne die Hintergründe. Diese Frauen tun oft den ganzen Tag nichts anderes, als gut auszuschauen. Die haben oft keinen 40-Stunden-Job, keine Kinder, Enkelkinder oder Eltern haben, die sie versorgen müssen. Und viele haben noch nicht einmal einen Mann, der ihre Fürsorge braucht. Dieses Bild beeindruckt unsere Denkweise, auch wenn wir wissen, dass es nicht stimmt. Letztendlich sollte einem diese scheinbare Anforderung egal sein. Wo ich allerdings keine Abstriche mache: wenn jemand dumm ist. Mit diesem Thema bin ich tagtäglich konfrontiert, weil ich Menschen begegne, die aufgrund meiner Sprachbehinderung glauben, dass ich dumm bin. Viele glauben nämlich, dass Menschen mit sprachlichen Einschränkungen generell einen niedrige IQ haben. Deshalb reden vielen in einfachen, lauten, hochdeutschen Sätzen mit mir, und das empfinde ich als sehr bitter. Ich denke mir dann immer, dass ich nicht angeschrien werden möchte, nur weil mich mein Gegenüber nicht versteht. Ich bin ja kein Volltrottel. Deshalb sage ich meistens: ‚Ich hatte Zungenkrebs, bin aber sonst ganz normal.‘ Damit gebe ich dem anderen die Information, die er oder sie sich nicht zu erfragen getraut hat. In elf Jahren hat mich nur eine einzige Person von sich aus gefragt, warum ich spreche, wie ich spreche. Wegen der Ehrlichkeit dieser Taxifahrerin bin ich damals fast in Tränen ausgebrochen vor Freude.

Damit hängt natürlich zusammen, dass ich beschlossen habe: Das ist alles nicht mein Problem. Wir machen uns viel zu oft Gedanken darüber, was andere von uns denken. Das sind deren Gedanken. Und entweder sie sprechen sie aus oder sie müssen damit weiterleben. Für mich ist das Selbstschutz, auch vor dem Hintergrund meiner Krankheit, die ein traumatischer Einschnitt in meinem Leben war.

VOLL50: Was trägt dich?

Claudia Braunstein:Mich trägt sicher die Tatsache, dass ich eine große, liebevolle Familie habe, zu der ich vier Kinder beigetragen habe. Sie ist mein Background. Aber auch die Erfahrung durch meine Erkrankung, die ich mit vielen Menschen teile. Ich habe eine Ausbildung zur Psycho-Onkologin gemacht und begleite Menschen mit Mundhöhlen-Krebs ehrenamtlich in einem Selbsthilfegruppen-Setting. Ich habe auch ein großes Netzwerk, in dem ich mich gut aufgehoben fühle. Man muss nicht mit allen befreundet sein, aber wenn man versucht, empathisch zu sein, hat man große Chancen, dass einem geholfen wird. Je positiver man sein möchte, umso leichter kommt man durchs Leben.

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Die Seele wächst an gegenseitiger Wertschätzung

Daniela Rohde bezweifelt, dass es Altruismus gibt und schwört auf Verbundenheit. Dabei kann sie durchaus Konflikte durchstehen und anderen ihre Lösungskompetenz lassen.

VOLL50: Wo und wann hört der Wunsch nach Harmonie um jeden Preis auf?
Daniela Rohde: Zugegeben bin ich ein harmoniebedürftiger Mensch. Früher haben mir Streitigkeiten Angst gemacht. Zu Hause wurde nicht gestritten, sondern die Dinge wurden „totgeschwiegen“, als wären die Konflikte dadurch verschwunden. Je älter ich werde, desto mehr stehe ich Auseinandersetzungen gerne durch, weil ich erkannt habe, dass gerade durch diese mein seelisches Wachstum gefördert wird. Die eigene Entwicklung wird gehemmt durch ein Zuviel an unechter Harmonie. Wenn aber alles ok ist, breche ich sicher keinen Streit vom Zaun.


VOLL50: Wie gestaltet Frau Verbundenheit mit voll50?
Daniela Rohde: Am meisten fühle ich mich mit meiner Familie verbunden. Mein Mann ist mein bester Freund! Die Kinder sind untereinander sehr verbunden. Die Geschwister mit ihren Familien kannst du dir nicht aussuchen. Dennoch bleiben wir für immer verbunden. Freunde kann ich mir aussuchen! Darunter gibt es Menschen, mit denen muss ich nicht jeden Tag telefonieren oder mich ständig treffen. Da telefoniere ich oder treffe sie zweimal im Jahr, und es ist, als hätten wir uns gestern gesehen: So vertraut, so easy … Das ist für mich echte Verbundenheit. In meinem Leben gibt es auch eine Freundin, mit der ich relativ viel Kontakt habe. Ich liebe sie auf eine Art, aber so richtig fließend oder leicht ist die Verbindung nicht. Sie bedarf gewisser Anstrengung! Darum denke ich, diese Freundschaft besteht aus einer Verbundenheit eines langjährigen gemeinsamen Weges, ist aber keine Seelenverwandtschaft. Dennoch ist auch diese Verbundenheit es wert, gelebt zu werden.


VOLL50: Wann platzt dem Altruismus die Hutschnur?
Daniela Rohde: Eine selbstlose Denk- und Handlungsweise – gibt es so etwas noch? Ist nicht in allem, was ich tue, ein klein wenig Egoismus? Warum bekomme ich Kinder? Für mich! Wofür will ich den Patienten die Schmerzen nehmen oder zumindest lindern? Nur für deren Wohl oder
auch ein kleines bisschen, um mein Helfersyndrom zu besänftigen? Warum engagiere ich mich in Vereinen? Weil ich möchte, dass sie fortbestehen und um ein kleines bisschen meinen Ruhm zu mehren?! In allem, was ich tue, scheine ich auch ein wenig meinen eigenen Vorteil zu suchen. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Heuchler. Dennoch bin ich kein purer Egoist! Denke ich… Und wenn ich alles auch ein wenig für mich tue, reißt auch keine Hutschnur.


VOLL50: Warum sollte Frau Voll50 den anderen auch mal Lösungskompetenz zugestehen?
Daniela Rohde: Ganz ehrlich? Damit habe ich gar kein Problem! Ich denke, dass jeder eine hohe Lösungskompetenz in sich trägt.


VOLL50: Was ist befriedigender als Respekt?
Daniela Rohde: Der Begriff Respekt kam häufig von den Eltern oder Lehrern, er hat etwas Eingestaubtes aber auch Einseitiges. Respekt will verdient werden. Anstrengend! Respektable Verhaltensweisen hingegen sind für mich ein Grundstein friedlichen Zusammenlebens. Ein schöneres Gefühl ist die gegenseitige Wertschätzung. Frau weiß, was sie an anderen hat. Und umgekehrt.

Von der Stärke, die eigene Meinung zu ändern

Andrea Kirchtag will aus dem Vollen schöpfen, jetzt mit voll50 mehr denn je. Und sie ist nicht auf der Welt, um so zu werden, wie andere sie wollen. Vor allem nicht ruhig.

VOLL50: Was versäumt frau mit voll50 gerne?

Andrea Kirchtag: Ich versäume gerne Zusammenkünfte, bei denen es nur und ausschließlich um Meinungsdiskussionen geht – ums Recht behalten, ums Durchsetzen und ums Besserwissen. Ich liebe es hingegen, mich mit Menschen auszutauschen, die wirklich etwas zu sagen haben und von denen man lernen kann. Ich schätze die Fähigkeit, unterschiedliche Ansichten auch einfach stehen lassen zu können – frei nach dem Motto „Let’s agree to disagree“

VOLL50: Ist es ein Widerspruch, zur Ruhe zu kommen und Veränderungen zu suchen?

Andrea Kirchtag: Für mich ist das gar kein Widerspruch. Ich bin ein Mensch, der Veränderungen braucht. Dann fühle ich mich lebendig und kann meine Ziele verfolgen und Neues erleben. Und als gelernte Psychologin weiß ich, dass jede Lebensphase auch immer wieder Veränderungen mit sich bringt. Als 30-Jährige haben mich natürlich andere Dinge beschäftigt als jetzt. Und das ist gut so. Während ich mich in jungen Jahren noch über so Vieles aufgeregt habe und „überall meinen Senf dazugeben musste“, erlaube ich mir seit mehreren Jahren, meine Meinung einfach auch einmal nicht kundzutun. Das finde ich sehr befreiend. Und die Ruhe? Die habe ich mein ganzes Leben gebraucht – schon als kleines Kind war mein Ruhepol das All-Eins-Sein in der Natur – das ist bis heute so geblieben. Bewegung in der Natur ist für mich die beste Kraft- und Ruhequelle.

Allerdings kann ich mit der Empfehlung von so manchen Menschen in meiner Umgebung, dass es auch für mich langsam Zeit wäre, etwas leiser zu treten, wenig anfangen. Das trifft für jene zu, die sich schon auf die Pension freuen und darauf hinarbeiten. Und manche sind dann ganz verblüfft, wenn ich sage, dass ich so voller Ideen bin und das Gefühl habe, aufgrund von über 30 Jahren Berufserfahrung kombiniert mit meinen vielen Ausbildungen, jetzt so richtig „aus dem Vollen zu schöpfen“. Die Vorstellung, dass ich „zur Ruhe kommen soll“ und mein Leben irgendwann ausschließlich darin bestehen soll, täglich irgendeinen Berg rauf und runter zu rennen oder mit den Walking-Stecken unterwegs zu sein oder tagaus tagein eine Radltour zu mache, ist mir unerträglich. Ich brauche immer was zum Denken, zum Entwickeln, zum Umsetzen, zum in die Welt bringen – und das werde ich auch tun, solange ich kann. Und irgendwann darf dann schon die „ewige Ruhe“ kommen – aber bitte jetzt noch nicht.

VOLL50: Legt man mit voll50 leichter alle Facetten der eigenen Persönlichkeit auf den Tisch oder schwerer?

Andrea Kirchtag: Es ist mir mit voll 50 nicht mehr so wichtig, mich unbedingt in allen Facetten zu zeigen. Ich wähle sehr genau aus, in welchen Kontexten ich mich wie zeigen will. Ich war immer schon ein Mensch, der sich selbst treu bleiben wollte. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich als junge Frau viel eher bereit war, Kompromisse einzugehen und mich auch anzupassen. Das interessiert mich jetzt gar nicht mehr. Ich weiß, dass ich meinen Weg gehe, meine Ziele verfolge, meine Standpunkte vertrete und gleichzeitig über ein gutes Maß an Selbstreflexion verfüge. Ich sehe es als Stärke an, auch die eigene Meinung zu ändern. Das gibt mir ein Gefühl von Verantwortungsbewusstsein und gleichzeitig von Sicherheit und Freiheit. Und wer mit mir nicht kann, muss ja nicht. Ich bin nicht auf dieser Welt, um so zu werden, wie andere mich haben wollen. Und siehe da: es gibt genug Menschen, die gerne mit mir in Verbindung stehen und genau dieses Mein-So-Sein sehr schätzen.

VOLL50: Wann fallen Arbeit und gesundes Nichtstun zusammen?

Andrea Kirchtag: Arbeit ist für mich ein Lebenselixier. Ich bin tatsächlich ein Mensch, der sehr, sehr gerne arbeitet. Mein berufliches Leben habe ich überwiegend der Unterstützung von Frauen in Richtung selbstbestimmtes Leben gewidmet – und das nach so vielen Jahren – jetzt sind es tatsächlich schon Jahrzehnte – mit der gleichen Freude wie eh und je. Und ich werde das weiterhin tun. Und es gibt viel zu tun, denn wir sind leider weit weg von der Gleichberechtigung der Frauen – in Österreich – in Europa – weltweit – LEIDER.

Und das gesunde Nichtstun? Das konnte ich früher besser. Ich bin vor allem seit Corona so extrem beruflich gefordert, dass ich aus dem Arbeiten nicht mehr rauskomme. Danke für diese Frage, denn es wird Zeit für mich, das gesunde Nichtstun wieder mehr in mein Leben zu integrieren.

VOLL50: Wie fordert man mit voll50 den inneren Zensor zum Tanzen auf?

Andrea Kirchtag: Der innere Zensor ist mein längster Vertrauter, Freund und Feind zugleich. Er ist immer bei mir und er nervt oft. Ich habe allerdings auch für mich entdeckt, dass ich eine innere Beraterin – eine innere Mentorin – ebenso habe. Und wenn der innere Zensor wieder einmal zu viel herumkritisiert, dann bitte ich diese innere Mentorin um ihre Unterstützung. Und diese innere Mentorin argumentiert so gut und stark, dass sich der innere Zensor „verzieht“ und Ruhe gibt. Bestimmt und liebevoll wird er dann für eine Zeit lang „in den Urlaub geschickt“ oder er darf sich wie eine Katze auf der Ofenbank ausruhen. Getanzt habe ich mit dem inneren Zensor noch nie – aber vielleicht sollte ich ihn einmal zum Tanz auffordern – mal schauen, was dann passiert.

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